Der Bann (German Edition)
haben.
Hannah sah aus dem Fenster auf den Schotterweg, wo ihr Vater immer noch vor dem fremden Pick-up kniete. Sie rang mit ihren Emotionen: Liebe, Hass, Angst, Unentschlossenheit. Irgendetwas stimmte nicht. So vieles stimmte nicht. Es gab wahrscheinlich nur sehr wenige sichere Auswege aus der ganzen Situation. Vielleicht gar keinen. Obwohl sie mit der Flinte auf Gabriel zielte, oder Jakab oder wie auch immer er sich nannte, fühlte sie sich unsicher. Er hatte eine Falle geplant. Deswegen saß er so entspannt vor ihr im Sessel. Sie starrte in das Gesicht dieser Falle, aber sie konnte nicht erkennen, wie sie zuschnappen würde. Doch was hinderte sie daran, ihn nach draußen zu führen, außer Sicht ihrer Tochter, und ihm eine Ladung Schrot durch den Schädel zu blasen?
Ein Geständnis, das ist es. Trotz allem bin ich nicht imstande, es zu tun – nicht, solange er mir nicht in die Augen sieht und die Wahrheit gesteht, solange ich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit weiß, dass ich keinen unschuldigen Mann erschieße. Und er scheint es irgendwie zu wissen.
Sie brauchte ihren Vater. Mit seiner Hilfe, mit seiner Schilderung der Ereignisse, konnte sie vielleicht genügend Puzzlesteine zusammensetzen, um die Sache zum Ende zu bringen.
Sie ging durch den Raum, ohne die Mündung der Flinte von Gabriel zu nehmen, bis sie neben Nate stand. «Ich gehe raus», sagte sie.
«Was?»
«Ich gehe meinen Vater holen.»
«Das kannst du nicht tun, Han!»
«Ich kann. Ich muss. Er ist der Schlüssel zu allem.»
«Ich stimme dir zu. Aber du gehst nirgendwohin. Es ist viel zu riskant.»
«Ich mache mir keine Sorgen um meine eigene Sicherheit.»
«Ich weiß», sagte er leise und legte ihr eine Hand auf den Rücken. «Das habe ich nicht gemeint. Dein Platz ist hier. Hier in diesem Raum. Die ganze Geschichte dreht sich nur um dich. So war es schon immer. Du musst hierbleiben, im Zentrum von allem. Für Leah. Für uns. Ich gehe Charles holen.»
«Du? Nate, du bist verwundet! Du kannst kaum laufen!»
«Du musst hierbleiben, Hannah. Und ich muss es tun.» Er sah ihr tief in die Augen, und sie erkannte, dass er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen würde.
Sie spürte, wie sie anfing zu zittern. Spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Sie küsste ihn. Dann ging sie zu Gabriel. «Leah, mach die Augen zu.» Sie rammte dem Iren den Kolben der Waffe gegen den Schädel.
Der Schlag warf ihn vom Stuhl. Er krachte gegen die Wand, sank zu Boden und blieb reglos liegen. Sie drehte sich zu ihrem Ehemann um. «Geh kein Risiko ein, Nate. Versprich mir das. Wir dürfen keinen Fehler machen.»
Nate nickte. Er öffnete die Esszimmertür und schlüpfte hinaus in den Flur. Eine Minute später hörte sie, wie der Motor ihres Discovery angelassen wurde. Augenblicke danach passierte der Wagen das Farmhaus und fuhr langsam die Piste hinunter zur Brücke.
Am Himmel war das Rosa hinter den weißen Wolken zu einem satten Purpur geworden. Ein Schwarm Wildgänse zog schnatternd seine Bahn. Unten bei der Brücke wartete Hannahs Vater, immer noch auf den Knien, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
Der Discovery wirbelte Dreck und Steine auf, als er über die Schotterpiste rumpelte. Hannah dachte an Nates blutende Wunde.
Wie konntest du nur einverstanden sein? Du musst ihn in ein Krankenhaus schaffen und dafür sorgen, dass seine Verletzungen behandelt werden!
Sobald er zurück war, würde sie genau das tun. Sobald sie das hier hinter sich hatten.
Sie spürte, wie Sebastien näher zum Fenster trat, näher zu ihr. Sie sah ihn an, sein kurzgeschorenes weißes Haar, seine smaragdgrünen Augen, den Stoppelbart auf seinen Wangen.
Nate brachte den Discovery drei Meter vor Hannahs Vater zum Stehen. Er öffnete die Tür. Langsam, ganz behutsam stieg er aus. Selbst von hier aus konnte sie sehen, wie viel Mühe es ihn kostete. Er hatte den Motor nicht abgeschaltet – sie konnte das Auspuffrohr wackeln und blaue Dieselwölkchen sehen, die in den Himmel stiegen.
Nate erschien hinter dem Discovery, und ihr Vater erhob sich. Sie sah, wie Nate etwas sagte. Ihr Vater antwortete. Nate ging auf ihn zu, als ihr Vater eine Pistole aus der Tasche zog und feuerte.
Die Waffe, Charles’ alte deutsche Luger, zuckte zweimal in seiner Hand, und auf der Rückseite von Nates Hemd erschienen zwei rote Flecken. Dann erst hallten die Schüsse heran und rollten durch das Tal. Nate wankte einen Moment, dann kippte er hintenüber.
Hannah rieb sich die Augen,
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