Der Bann (German Edition)
fester. Ihre Schädeldecke kribbelte. Ihre Wangen brannten. Ihr Atem ging in flachem Keuchen. Plötzlich war sie sich jedes Nervenendes in ihrem Körper bewusst. Sie spürte die Liebkosung des nächtlichen Windhauchs auf den Lippen, das Reiben ihrer Kleidung auf den Brüsten, das kalte Holz des Stuhls unter ihren Schenkeln.
Immer mehr goldene Punkte erschienen, lösten sich und schwebten nach außen, und die Farben an den Rändern der Iriden begannen zu pulsieren, verliefen von einem tiefen Blau über Violett nach Indigo. Hannahs Umgebung hatte aufgehört zu existieren. Sie sah nichts mehr außer dem Licht, dem Dunkel, den Farben und dem Gold seiner Augen. Und sie hörte nichts mehr außer dem Rauschen ihres eigenen Blutes in den Ohren.
Und dann, als wären die wirbelnden Farben ein Strudel, der sie unausweichlich tiefer und tiefer in ein Vakuum in seinem Innern zog, fühlte sie sich in die Dunkelheit dieser Pupillen gesogen und
gezerrt
. Sie ließ die wechselnden Farben zurück, und ihre Welt schwand zu einem angsteinflößenden schwarzen Nichts, das nach ihr schrie, nach ihr krallte, auf sie einstürmte.
Hannah erschauerte, wand sich, spürte, wie ihre Finger zuckten und in Gabriels Griff ruckten. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und ein Schrei staute sich. Sie versuchte wegzusehen, doch es gelang ihr nicht.
Es erschien ihr wie ein Zeitalter, ein Menschenleben, und vielleicht dauerte es in Wirklichkeit nur wenige Augenblicke, doch dann stieß Gabriel ihre Finger beiseite und sprang vom Stuhl auf.
Nachdem die Verbindung auf diese Weise unterbrochen war, zuckte Hannah in ihrem Stuhl zurück. Sie rang nach Atem, schlug die Hände vors Gesicht, spürte die feuchten Bahnen von Tränen auf den Wangen. «Mein Gott», flüsterte sie erschüttert. «Ich dachte für einen Moment …»
Gabriel musterte sie besorgt. Er war sichtlich angeschlagen. «Ist alles in Ordnung?»
«Ich dachte für einen Moment, ich würde mich verlieren.»
«Es tut mir leid. Es war das erste Mal, dass ich das getan habe. Ich hatte völlig vergessen, dass Sie … dass Sie keine …»
«Hosszú élet.»
Er starrte sie mit leerem Blick an.
Hannah wischte sich Schweiß von der Stirn. Sie erhob sich. Benommenheit übermannte sie, und sie hielt sich am Tisch fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schwer atmend drehte sie sich zu Sebastien um. «Er ist nicht Jakab. Er ist es nicht.»
Mit einem letzten Blick zu Gabriel flüchtete sie hinaus in den Flur und stieg die Treppe bis zum ersten Absatz hinauf, wo ein offenes Fenster frische Luft hereinließ. Sie war dankbar für die belebende Kühle auf den erhitzten Wangen. Als das Kribbeln auf ihrer Haut langsam verebbte und ihre Angst zurückging, spürte sie, wie sie von einer Wärme durchflutet wurde, als hätte jemand ihre Schädeldecke geöffnet und heißen Sirup hineingegossen.
Leahs Zimmer war eine Rumpelkammer mit nichts weiter darin als einem einzelnen Bett, das die gegenüberliegende Wand komplett einnahm. Die Fensterläden waren geschlossen. Das kleine Mädchen lag darunter, eingehüllt in eine kunstvoll bestickte Steppdecke.
Auf einem Nachttisch lagen aufgestapelt die Tagebücher der Familie, angefangen bei Hans Fischer. Die Schnur, die sie normalerweise zusammenhielt, lag zusammengeknüllt auf dem Boden.
Also hatte Leah angefangen, darin zu lesen. Vielleicht war die Zeit dazu gekommen.
Hannah betrat die Kammer, sank auf das Bett und kuschelte sich an ihre Tochter.
«Ich dachte, du würdest sterben», flüsterte Leah in die Dunkelheit. «Ich bin immer wieder bei dir gewesen, aber du bist nie aufgewacht, um mit mir zu reden.»
«Jetzt bin ich hier. Und ich gehe nicht wieder weg. Ich bin hier, und du bist sicher.»
Leah drehte sich zu ihrer Mutter um. «Ich habe dir Eier gemacht, aber du wolltest nichts essen», sagte das kleine Mädchen. «Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.»
Hannah zog sie an sich und drückte ihren Kopf gegen die Brust, sodass sie den Duft von Leahs Haar atmen konnte. Die Wärme, die sie erfüllt hatte, hielt noch immer vor. Nun, mit ihrer Tochter in den Armen, spürte sie zum ersten Mal seit Nates Tod so etwas wie einen Moment der Ruhe.
Drei Tage und drei Nächte lang hatte sie wieder und wieder den Moment durchgespielt, als ihr Vater aufgestanden war und ihren Mann erschossen hatte. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, lief der Film aufs Neue ab. Drei Tage und Nächte hatte sie sich wieder und wieder gefragt, was sie hätte tun können, um
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