Der Bann (German Edition)
Éva. Sie ist
Ihre Mutter
?»
Gabriel nickte.
Hannahs Blick ging nach draußen zum Obsthain. Die
Főnök
hatte Sebastien eingeholt. Sie hakte sich bei ihm unter und führte ihn zu der Bank.
Kannst du dir vorstellen, welchen besonderen Schmerz es mit sich bringt, dabei zuzusehen, wie jemand, den du liebst, alt wird und stirbt, und all das in einer Zeitspanne, die dir wie ein oder zwei Jahre erscheint? Würdest du wollen, dass irgendjemand diesen Horror durchlebt?
Der Schmerz in Évas Gesicht, als sie Sebastien nach draußen folgte, hatte Hannah die harte Wahrheit hinter ihren Worten erkennen lassen. Wie musste es für Sebastien sein, die Frau, die er liebte, wiederzusehen – genauso jung wie damals vor fünfzig oder sechzig Jahren, als er sie kennengelernt hatte? Évas Schönheit war ungeschmälert von der Zeit. Die achtzig Jahre hingegen, die Sebastien bereits über die Erde wandelte, waren in jeder Falte seines Gesichts zu sehen, waren offenkundig in jedem Leberfleck, jeder knotigen Ader, jedem geschwollenen Knöchel. Das Haar war zurückgewichen, die Haut erschlafft. Seine Muskeln hatten sich verkürzt, seine Gelenke waren steif geworden. Seine Augen – jene Augen, die Éva vor all den Jahren vermutlich zu der falschen Annahme geführt hatten, er wäre ein
hosszú élet
–, diese Augen hatten ihre atemberaubende smaragdgrüne Farbe behalten. Alles andere hatte sich verändert, war gealtert, abgenutzt. In Hannahs Augen war er ein unglaublich attraktiver alter Mann, tapfer und eigenwillig, unsentimental und doch mitfühlend. Nichtsdestotrotz war der physische Verfall nicht zu übersehen, den die Zeit ihm zugefügt hatte.
Hannah fragte sich, was Sebastien über diesen Verfall denken musste. Sie fragte sich, was er sah, wenn er Éva anblickte. Und sie fragte sich, was Éva dachte, wenn sie sah, wie der junge Mann, den sie einst geliebt hatte, von der Zeit gezeichnet und geschwächt worden war.
Das ungleiche Paar hatte sich auf die Bank gesetzt. Sebastien saß nach vorn gebeugt und starrte zu Boden. Éva redete leise auf ihn ein. Als sie die Hand ausstreckte und auf Sebastiens Hand legte, zuckte er zusammen, doch dann ließ er es geschehen.
«Ihre Mutter hat mir eine Menge erklärt», sagte Hannah. «Es macht Nates Tod nicht einfacher für mich, aber ich sehe jetzt, dass nicht nur Leah und ich von dieser Geschichte betroffen sind.»
«Sie hat Ihnen alles erzählt?»
«Sie sagte, dass Sie mit großer Wahrscheinlichkeit einer der letzten
hosszú életek
sind.»
«Welch eine Ehre, nicht wahr?»
Sie tat es der
Főnök
nach und legte ihre Hand auf seine. «Ist alles in Ordnung?»
Gabriel starrte auf ihre Hand, dann zog er seine darunter weg und nickte. «Ja, sicher. Alles in Ordnung.»
Auf dem Boden spitzte Moses die Ohren. Einen Moment später blickte Gabriel zum Fenster.
«Was ist denn?», fragte Hannah stirnrunzelnd.
«Fahrzeuge», sagte er und erhob sich. «Sie nähern sich dem Haus.»
Kapitel 24
Region Aquitaine, Frankreich
Heute
H annah sprang sofort auf. Ihre Kopfhaut prickelte, und sie erschauerte, als marschierte eine Armee von Käfern über ihre Haut. Sie war mit einem Mal überzeugt, dass der Moment endlich gekommen war – die Abrechnung mit Jakab. Leahs Zukunft würde sich heute entscheiden, abhängig von dem, was sie tat. Die Bürde dieser Verantwortung ließ das Blut von ihrem Magen wegströmen und durch ihre Arterien schießen. Sie sah plötzlich alles doppelt, überwältigt von den eigenen Emotionen, und legte die Hände auf den Tisch aus Angst, sie könnte vom Stuhl fallen.
«Was ist denn?»
Sie sah Gabriel an und schüttelte den Kopf. Keine Zeit für Erklärungen. Keine Zeit für Schwäche.
Sie waren im falschen Teil des Hauses. Die Küche öffnete sich zum Obstgarten hin und zu dem Pfad, der hinunter zum Fluss führte. Von hier aus waren sie blind für sich nähernde Fahrzeuge.
Aber Jakab kann uns nicht gefunden haben. Völlig unmöglich, oder? Ich war so vorsichtig. Niemand wusste von diesem Zufluchtsort, niemand außer Nate und mir. Und wir haben es geheim gehalten.
Nein, Hannah, nicht ganz. Wer weiß, was während deines dreitägigen Blackouts passiert ist. Du hast Sebastien mit der ganzen Verantwortung allein gelassen. Sämtliche Kontrollen, sämtliche Vorsichtsmaßnahmen, die du ergriffen hättest, weitergereicht an einen alten Mann, den du kaum kennst! Er könnte Dutzende von Fehlern gemacht haben, von denen jeder einzelne Jakab auf deine Spur gebracht haben
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