Der Bann (German Edition)
Hannah schlug so heftig mit dem Kopf gegen das Fenster, dass sie für einen Moment benommen war.
Weiter, weiter. Immer weiter
.
Als der Wagen sich wieder gefangen hatte und aus der Kurve heraus beschleunigte, bemerkte sie eine Krähe auf dem Weg, die auf irgendetwas hockte. Es war ein Leichnam. Er konnte nicht mehr am Leben sein – ein Messer steckte bis zum Heft in seiner Brust. Das rechte Bein stand ab in einem unnatürlichen Winkel. Eine Seite seines Schädels war völlig zerschmettert.
Der Weg war zu schmal. Zu beiden Seiten standen dicht gedrängt Kastanien, Eichen, Buchen und Birken. Sie konnte sich nicht erlauben anzuhalten und den Toten aus dem Weg zu ziehen. Sie musste vorbei. Die Krähe flatterte panisch hoch. Hannah beschleunigte wieder.
Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wer du warst. Es tut mir so leid.
Der Jeep jagte mit brüllendem Motor den Anstieg hoch. Hannah zwang sich, die Augen offen zu halten, als der Wagen über den Leichnam rumpelte und ruckte. Fast wäre sie schon wieder aus dem Sitz gerissen worden.
Sie roch den Rauch, bevor sie ihn sah. Ein Beißen in der Nase, ein bitterer Geschmack im Hals.
Hinter einer Biegung sah sie die ersten Schwaden zwischen den Bäumen. Ein Stück weiter war aus den ersten Schwaden eine graue Wolke geworden, die zunehmend dunkler wurde.
Als sie um die nächste Kurve fuhr, erwartete sie eine wabernde Wand aus schwarzem Qualm, der den ganzen Weg einhüllte. Hannah bremste hart und fuhr im Schritttempo weiter. Die Sicht war auf wenige Meter begrenzt. Öliger Qualm, dunkel und fett glänzend wie Teer, waberte rings um sie herum. Der Jeep kroch nur noch, während sie nach draußen auf die wirbelnde Masse starrte und zu erkennen versuchte, woher der Qualm kam. Ein paar Meter. Noch ein paar Meter. Dann der Gestank von brennendem Gummi. Brennendem Plastik. Der Qualm drückte gegen die Scheiben. Hannah schaltete das Fernlicht ein. Vor ihr glänzte und glitzerte etwas.
Hustend vom Qualm, der sich einen Weg in ihre Lungen bahnte, bugsierte sie den Jeep vorwärts. Was auch immer sich im Licht der Scheinwerfer gespiegelt hatte, es verschwand, als ein weiterer Rauchpilz aufquoll.
Dann kam es wieder. Unverkennbar jetzt. Die Rückseite eines weißen Audi Q 7 .
Und dann wusste sie plötzlich, dass es der Wagen war, der Dániel Meyer zum Le Moulin Bellerose gebracht hatte. Derselbe Wagen, in dem Jakab ihre Tochter entführt hatte. Sie lenkte den Jeep neben den völlig zerstörten Audi. Hannah merkte, dass ihre Hände am Steuer zitterten und das Blut in ihren Ohren rauschte – und alles nur, weil Jakab hier gewesen war, genau wie ihre Tochter, und wie konnte überhaupt noch jemand am Leben sein in dieser zerbeulten und geschwärzten Metallbüchse?
Ohne es zu merken, hatte sie den Jeep angehalten. Sie schaltete den Motor ab, löste ihren Sicherheitsgurt, öffnete die Tür und schlüpfte aus dem Wagen. Sie atmete tief durch. Noch einmal. Starrte auf den brennenden Audi. Blickte zur Seite. Sie fühlte sich krank. Aber warum sollte sie das kümmern, so etwas zutiefst Banales.
Der schwarze Qualm wehte mittlerweile weg von ihr in Richtung Farm – jenem trügerischen Zufluchtsort, den sie sich zusammen mit Nate aufgebaut hatte. Hannah blickte den Weg entlang. Näherte sich vorsichtig dem Wrack.
Der Wagen war in scharfem Winkel von der Straße abgekommen, als hätte der Fahrer versucht, einem Hindernis auszuweichen. Ein paar Meter weiter, und er wäre durch die Bäume hindurch und auf dem freien Feld gewesen. Stattdessen war er frontal gegen eine Eiche gerast. Der Aufprall war so heftig gewesen, dass es aussah, als wäre der Motor mit dem Baum verschmolzen. Schwarzer Rauch von brennenden Kabeln und Öl quoll unter der Haube hervor. Dunkle Flammen leckten über das Metall.
Die Windschutzscheibe war verschwunden. Der Fahrersitz war schwarz vor Blut. Unmengen Blut.
Hannah zwang sich, noch näher heranzugehen. Der Beifahrersitz war leer, doch sie konnte auch dort Blut sehen. Sie wollte die Augen schließen, wollte sterben, als ihr klar wurde, dass es Leahs Blut sein musste.
Sie ist vielleicht ganz in der Nähe. Vielleicht ist sie in die Büsche gekrochen. Sie liegt vielleicht in einem der Büsche und stirbt dort, an einem friedlichen Ort, weg von dem verbogenen, scharfen Metall und dem Gestank von brennendem Kunststoff und Öl und der Gewalt und all dem Irrsinn. Oder sie ist bereits gestorben, einsam und verängstigt und voll Sehnsucht nach dir, voller Fragen, warum du
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