Der Bann (German Edition)
zurück!»
«Halt für eine Weile die Klappe, okay?»
Leah nickte und wischte sich die Tränen von den Wangen.
Sebastien fuhr immer schneller. Der Weg zwischen den Bäumen hindurch war gerade breit genug für ein einzelnes Fahrzeug. Immer wieder peitschten Zweige über die Windschutzscheibe. Die Reifen zerfetzten Farne und Gestrüpp.
Hinter einer Kurve sah Leah plötzlich einen Mann mitten auf dem Weg liegen. Er trug eine Khakijacke und eine schwarze Hose mit vielen Taschen, und er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. Ein Messer ragte aus seiner Brust wie eine Kerze auf einem Geburtstagskuchen. Blut hatte seine Jacke durchnässt und den Boden ringsum dunkel gefärbt. «Wir müssen helfen!»
«Er ist tot.»
«Aber du musst anhalten», stöhnte Leah, indem sie sich mit einer Hand am Armaturenbrett abstützte und den Kopf zur Seite drehte.
«Es gibt keinen Weg außen herum.»
«Du kannst doch nicht einfach –»
Der Wagen rumpelte über den Leichnam, ohne seine Fahrt zu verlangsamen. Leah steckte die Faust in den Mund und kniff die Augen fest zusammen. Sie wollte schreien.
Du musst erwachsen sein. Du darfst kein kleines Mädchen mehr sein. Das war es, worauf Mami dich in den vielen Unterhaltungen immer vorbereiten wollte. Sie sagte, es wäre furchtbar, und du müsstest vielleicht furchtbare Dinge tun. Nun, sie hatte recht, nicht wahr? Du kannst von Glück sagen, dass Sebastien bei dir ist und auf dich aufpasst, weil du bis jetzt mehr oder weniger völlig nutzlos warst.
Doch das Problem war, dass Sebastien sich ebenfalls furchtbar verhielt. Nicht nur, weil er nicht angehalten hatte bei dem Mann mitten auf der Straße. Der Fremde war tot gewesen, das hatte jeder sehen können – sie hatte es nur nicht zugeben wollen. Auch nicht, weil er einfach über den Toten gefahren war. Sie flüchteten um ihr Leben, und wenn man in einer solchen Situation steckt, muss man Dinge tun, die man normalerweise nicht tut. Brutale Dinge. Sie war überzeugt, dass sie den Moment niemals vergessen würde, als sie über den Mann gefahren waren. Dass sie jede Nacht bis zum Ende ihres Lebens das Geräusch der über den Toten rumpelnden Reifen hören würde. Doch sie wusste auch, dass es Teil des Preises war, den sie für ihre Flucht bezahlen mussten. Eines jener hässlichen Dinge, die sie tun mussten. Wegen Jakab.
Obwohl er nicht angehalten hatte, obwohl er einfach weitergefahren war und obwohl sie wusste, dass er gezwungen war, diese schrecklichen Dinge zu tun, hatte er auch überhaupt nicht versucht, ihr in der Situation beizustehen. Hatte ihr nicht gesagt, dass sie wegsehen sollte, hatte nicht versucht, ihre Augen von dem Anblick abzuschirmen.
Als ihre Zähne auf die Faust bissen, die sie sich in ihrer Verzweiflung in den Mund geschoben hatte, bemerkte sie, wie stark sie angefangen hatte zu zittern. Sie blickte sich im Wagen um, starrte die Ledersitze an, die Instrumente im Armaturenbrett, Sebastien auf dem Fahrersitz.
Er kauerte konzentriert über dem Lenkrad, kurbelte wild nach rechts und links, die Mundwinkel hochgezogen, ein Mittelding zwischen einem Grinsen und nacktem Hohn.
Sie streckte die Hand aus und fummelte an den Kontrollen auf der Mittelkonsole. Sie drückte den Zigarettenanzünder ein, verdrehte die Einstellung der Klimaanlage, schaltete das Radio ein, regelte die Lautstärke hoch.
Aus den verborgenen Lautsprechern des Wagens schmetterte Tanzmusik. Sebastien brüllte sie an, schlug ihre Hand zur Seite, stieß mit dem Finger nach dem Radio, schaltete es ab. «Was zum Teufel ist los mit dir?»
«Wir müssen zurück, um Mami zu holen.»
«Ich habe dir doch schon gesagt, wir fahren zurück. Und jetzt sei bitte still. Ich muss mich konzentrieren.» Er bedachte sie mit einem flüchtigen Lächeln. «Hör mal, ich weiß, dass du Angst hast, okay? Aber es wird alles wieder gut. Du bist jetzt in Sicherheit.»
Sie sah ihn an. Sah ihn
richtig
an. Den Flaum weißer Haare auf dem sonnengebräunten Schädel. Die tiefen Falten, die seine Haut durchzogen. Die Leberflecken auf den Handrücken. Er hatte eine Tätowierung am Handgelenk, doch sie konnte sich nicht erinnern, an welchem. Sein ihr zugewandtes Gelenk war sauber. Das andere wurde von seinem Mantel verdeckt.
Voraus wurde der Wald lichter, und Leah sah zwischen den Stämmen eine ausgedehnte Wiese. Sie wusste, dass irgendwo dort der Fluss verlief.
«Wo hast du meinen Daddy zum ersten Mal gesehen?», fragte sie unvermittelt.
Sebastien starrte sie überrascht an.
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