Der Bann (German Edition)
Geschichte schon jetzt zu wiederholen. Hannah war zur hilflosen Zeugin der Geschehnisse geworden. Es war leicht für Sebastien zu sagen, dass die Sache ein Ende nehmen müsse. Sie hatte sich immer gesagt, dass sie, wenn die Zeit kam, kämpfen würde, anstatt zu fliehen. Doch genau dazu war sie bisher gezwungen worden. Zu fliehen.
Es war, so schwor sie sich, nur eine vorübergehende Flucht. Sie würde trotzdem weiterkämpfen. Sie hatte immer noch Leah, und Nate klammerte sich an sein Leben. Wenn er diesen Kampf verlor – sie spürte, wie sich ihre Kehle bei dem bloßen Gedanken zusammenzog –, dann war zwar ein fundamentaler Teil ihres Lebens unwiderruflich vorüber, doch die Verantwortung, für Leahs Sicherheit zu sorgen, würde umso schwerer auf ihren Schultern lasten. Und während sie noch nicht bereit war, über eine Welt ohne Nate nachzudenken, würde sie doch ohne Zögern ihr eigenes Leben eintauschen, um die Zukunft ihrer Tochter zu retten.
Doch was, wenn es zum Schlimmsten kam? Was, wenn Nate seinen Kampf verlor und Hannah ihr Leben für das ihrer Tochter gab? Leah wäre ganz allein auf der Welt.
Nach den furchtbaren Ereignissen der Nacht musste Hannah davon ausgehen, dass ihr Vater nicht mehr lebte. Damit war keiner mehr übrig. Niemand auf Nates Seite. Ihre eigene Familie ebenfalls tot. Einer von ihnen beiden
musste
überleben, um Leahs willen. Womit sie wieder beim gleichen Dilemma war. Kämpfen oder fliehen. Allmählich fing sie an zu verstehen, vor welch unmöglichen Entscheidungen jene gestanden hatten, die vor ihr auf diesem Weg gegangen waren.
Hannah versuchte positiv zu denken. Das Farmhaus konnte immer noch als Zuflucht fungieren, wie ihr Vater es beabsichtigt hatte. Ein Rückzugsort vor der Jagd. Er hatte ihnen ein wenig Zeit verschafft – Zeit zum Planen, Zeit für Nate zur Regeneration, Zeit für sie, um Leah alles zu erklären, so gut es ging.
Sie sah zu Sebastien, der vor ihr im Lehnsessel saß. Sie wusste, dass er sie beobachtete, ihre Kraft und ihre Entschlossenheit abzuschätzen versuchte. Welche Rolle spielte er in dieser Geschichte? Nach seiner anfänglichen Schroffheit hatte die Sanftmut in seinen Worten das Gute in ihm verraten. Sie spürte, dass sie in ihm einen Verbündeten gefunden hatte. Doch sie hegte auch den Verdacht, dass er ihr längst nicht alles erzählt hatte. Wissen war stets die wichtigste aller Waffen gewesen in dem Kampf, den zu führen sie gezwungen war. Und Wissen war das, woran es ihr am meisten fehlte.
Sie musste sich Sebastiens Vertrauen sichern, und zwar schnell. Was immer er ihr erzählen konnte – über Jakab, über ihren Vater, über das, was hinter alldem steckte –, konnte nützlich sein, konnte die Chancen zu ihren Gunsten verändern.
Kämpfen oder fliehen.
«Du hast recht, sie braucht ein ordentliches Bett zum Schlafen.» Hannah leerte ihren Becher und stellte ihn auf die Theke. «Aber ich möchte nicht, dass sie aufwacht und ganz allein in einem fremden Zimmer ist. Nicht nach dieser Geschichte. Kannst du mir die Zimmer oben zeigen? Es gibt sicher ein großes Schlafzimmer, oder?»
«Nach vorn raus, ja.»
«Dann kann sie dort bei mir schlafen.»
Sebastien nickte und verzog das Gesicht, als er sich aus dem Sessel stemmte. Er stellte seinen Becher geräuschvoll neben ihrem auf der Theke ab.
Hannah ging zum Sofa und kniete neben Nate nieder. Er schlief immer noch, und seine Blässe war so erschreckend wie beim ersten Mal, als sie nach stundenlanger Flucht die Innenbeleuchtung des Discovery eingeschaltet hatte. Er atmete in flachen, abgehackten Zügen. Sie hätte gerne unter den Verbänden nachgesehen, ob die Blutungen zum Stillstand gekommen waren, doch Sebastien hatte sie gewarnt, das besser nicht zu tun. Sie küsste Nate auf die Stirn und strich ihm das Haar glatt.
Die Maglite lag beim Kamin, wo sie sie hatte liegen lassen. Hannah hob die Taschenlampe auf. Auch wenn Sebastien den Generator angeworfen hatte und sie nun über elektrisches Licht verfügten, fühlte sich das massive Aluminiumgehäuse der Lampe irgendwie beruhigend an. «Gehen wir oben nachsehen, okay?», sagte sie zu dem alten Mann.
Sebastien sah zu Moses und deutete in Nates Richtung. «Du bleibst hier und passt auf», befahl er. Moses spitzte ein Ohr. Seine Zunge rollte aus dem Maul, und er hechelte zustimmend.
Draußen im Flur legte Sebastien den Lichtschalter um. In einem verstaubten Kristallleuchter flammte eine einzelne Milchglasbirne auf. Das Licht zeichnete eine
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