Der Bann (German Edition)
gemacht hatte, trottete Moses zu ihm, um ein wenig Aufmerksamkeit einzufordern.
«Du wusstest schon, dass etwas nicht in Ordnung ist, als du hergekommen bist, stimmt’s?», fragte Hannah. «Noch bevor du Nate gesehen hast.»
Er nickte. «Ich habe heute Abend mit Charles gesprochen.»
Seine Beichte schreckte sie auf. «Du hast mit ihm gesprochen?
Wann?
»
«Kurz bevor er mit dir gesprochen hat, schätze ich.»
«Was hat er gesagt? Hast du seitdem von ihm gehört? Geht es ihm gut?»
Sebastien hob eine Hand und signalisierte Hannah, leiser zu sprechen. «Ich habe einmal mit ihm geredet, das ist alles, eine ganze Weile, bevor ihr hier aufgetaucht seid. Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seit ihr entkommen seid, und er hat auch nicht versucht, mich zurückzurufen. Ich bezweifle, dass er es tun würde. Er sagte, ihr würdet in Schwierigkeiten stecken.»
Sie nickte. «Hat er dir auch erzählt, was genau passiert ist?»
«Er sagte, irgendjemand aus dem Büro seines Anwalts hätte ihn angerufen. Sie wären in Sorge, dass sie vielleicht eine falsche Bemerkung gemacht hätten. Er nannte keine Einzelheiten. Es war eine schnelle Unterhaltung. Kannst du mir verraten, was passiert ist? Wie wurde Nate verletzt?»
«Das weiß ich selbst nicht. Dad hat uns angerufen. Er sagte, wir müssten auf der Stelle verschwinden und sollten ihm auf keinen Fall sagen, wohin wir gehen. Nate und ich teilten uns auf. Er fuhr nach Hause, um ein paar Dinge zu packen, und ich ging Leah holen. Ich war draußen auf dem Feld, als ich die Schüsse hörte.»
«Schüsse?»
«Es klang nach einer Pistole. Ich glaube, Nate hat ihn niedergeschossen. Als die Schüsse fielen, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich rief ihn von meinem Handy aus an, und er sagte mir, ich solle mit dem Discovery rückwärts neben das Haus kommen. Das tat ich, und er stieg in den Wagen. Ich hatte keine Ahnung, wie schlimm seine Verletzung ist, bevor wir hier waren.»
Sebastien runzelte die Stirn und blickte zu Hannahs Ehemann. «Hast du deinen Vater noch gesehen, bevor ihr losgefahren seid?»
«Nein. Nein, habe ich nicht.»
«Hat er seither versucht, mit dir in Kontakt zu treten?»
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte es nicht laut aussprechen und sich selbst gegenüber eingestehen, was diese Tatsache vermutlich bedeutete.
«Es tut mir leid, Hannah. Es ist eine schlimme Geschichte. Sie muss zu einem Ende kommen. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um euch zu helfen.»
Sie kämpfte gegen die Tränen. Dann nahm sie die Teebeutel aus den Bechern, rührte Milchpulver ein und reichte Sebastien einen Becher.
Er legte die Hände um das Gefäß und sah zu Leah. Das kleine Mädchen schlief zusammengerollt im gegenüberliegenden Lehnsessel. «Kann ich einen Vorschlag machen?»
«Bitte.»
«Wir legen die Kleine oben ins Bett. Es gibt ein Kinderzimmer mit einem fertig gemachten Bett. Die nächsten paar Tage werden hart für sie, und sie muss sich verdammt schnell an all das hier gewöhnen.»
Hannah sah zu ihrer Tochter und widerstand dem Drang, sie in die Arme zu schließen. Vor Leahs Geburt hatte sie geglaubt, die Emotionen, die Nate in ihr hervorrief, wären der Gipfel dessen, was ein menschliches Wesen empfinden konnte: Liebe und Angst in gleichem Ausmaß, Liebe, die so machtvoll war, dass sie ihre Angst, Nate dem Schatten zu offenbaren, der sie verfolgte, beinahe überwältigte – jedoch niemals ganz. Angst, dass sie jemanden verlieren könnte, für den sie
so viel
empfand. Und doch – als Leah in ihr beider Leben getreten war, war sie wieder überrascht worden von der Macht und Komplexität ihrer Gefühle: wieder Liebe und Angst, hoffnungslos ineinander verschlungen, so intensiv wie nichts, was sie vorher gefühlt hatte. Liebe, die nicht konkurrierte mit der Liebe, die sie für Nate empfand, sondern hinausreichte und alle drei in ihren Armen vereinte. Multiplizierte Angst, ins Groteske vergrößert von der schrecklichen Möglichkeit, beide zu verlieren oder einen zu verlieren und den Schmerz des Verlusts im Gesicht des anderen zu sehen oder – dieser letzte Gedanke, der sich nur in ihren dunkelsten Augenblicken regte – sich für einen von beiden entscheiden zu müssen und den anderen aufzugeben. Einen zu opfern, damit der andere weiterleben konnte.
Von jenem ersten Tag an hatte sie sich geschworen, nicht zuzulassen, dass die Ereignisse, die ihre eigene Kindheit zerstört hatten, auch das Leben ihrer Tochter ruinierten. Und doch schien sich die
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