Der Bann (German Edition)
letzte Mal hier war, um nach dem Rechten zu sehen, fand ich die geladene Flinte in der Vorratskammer. Genau da, wo du sie auch gefunden hast, zweites Regalbrett auf der linken Seite, richtig? Weil ich weiß, was für Typen sich manchmal in leerstehenden Häusern herumtreiben, wollte ich keine geladene Waffe hierhaben. Deswegen entlud ich sie. Du hattest keine Zeit, die Läufe zu kontrollieren, als du sie rausgenommen hast. Wenn es dir hilft, die Patronen sind wieder in ihrer Schachtel in der Schublade im Schrank hinter dir. Dem mit dem ganzen Geschirr. Wenn du bitte dieses Ding aus meinem Gesicht nehmen könntest … es ist sehr unhöflich.»
Hannah trat ein paar Schritte zurück und vergrößerte den Abstand zwischen sich und dem Alten. Als sie fast bei der Tür zum Flur angekommen war, brach sie die Waffe und kontrollierte die Läufe.
Leer.
«Erzählen Sie mir mehr», verlangte sie.
«An dem Tag, an dem dein Vater und deine Mutter sich zum ersten Mal begegneten, stritten sie sich um einen Tisch. Ich weiß nicht genau, wo, aber es war eines der Colleges in Oxford, wo dein Vater unterrichtete.»
Sie wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass irgendjemand diese Geschichte kannte, es sei denn, Charles hatte sie ihm persönlich erzählt. Zusammen mit seinem Wissen um die Flinte konnte das nur eines bedeuten: Er sagte die Wahrheit.
Hannah spürte, wie die Erschöpfung über ihr zusammenschlug. Irgendwie hatte sie es fertiggebracht, Nate und Leah lebend aus dem Haus ihres Vaters zu bringen. Im Augenblick schien es so, als wären sie nicht verfolgt worden. Nates Zustand war schlimm. Die Möglichkeit, dass er die Nacht nicht überstand, so vernichtend sie auch sein mochte, war etwas, das sie in Betracht ziehen musste. Doch sie hatten einen sicheren Unterschlupf gefunden. Eine Atempause, eine Galgenfrist vor dem, das sie jagte. Noch hatten sie eine Chance.
«Hannah?», riss der Alte sie aus ihren Gedanken.
Sie blinzelte die Erschöpfung weg. «Bitte entschuldige, Sebastien. Als ich die Tätowierung gesehen habe, bin ich in Panik geraten. Ich wusste, dass ich sie schon einmal gesehen hatte, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern, wo.»
«Du musst dich nicht entschuldigen, Hannah. Falls du mich je wieder validieren musst, aus welchem Grund auch immer, dann zögere nicht. Besser, auf Nummer sicher zu gehen. Und wenn ich nicht schnell genug antworte oder beleidigt tue oder verblüfft erscheine, erschieß mich. Ziel auf meinen Kopf, nicht auf meine Brust. Charles hat diese Regeln aus einem einfachen Grund aufgestellt – sie funktionieren, und sie sind die einzige Möglichkeit, deine Familie zu beschützen. Nachher erzähle ich dir ein paar Dinge, die du benutzen kannst, um mich zu validieren, sollte es nötig werden. Nachdem das geklärt wäre – ich bin von Natur aus kein sehr geduldiger Mensch. Ich hoffe um unser beider willen, dass du dein Wort hältst und endlich diesen Tee aufsetzt.»
Sie lächelte gezwungen bei seinen letzten Worten, auch wenn ihr nicht danach zumute war. Er versuchte die Atmosphäre aufzulockern, und er hatte eine Reaktion verdient. Er hatte schließlich schon unendlich viel mehr für sie und Nate getan. «Ich finde, das ist das Mindeste, was du dir verdient hast. Danke, Sebastien. Danke dafür, dass du hier bist. Dass du Nate geholfen hast.»
Sebastien winkte ab.
Sie ging zum Schrank, fand die Schachtel mit den Schrotpatronen und lud zwei davon in die Flinte. Dann legte sie die Waffe wieder in die Vorratskammer und kam mit Teebeuteln, Milchpulver und Zucker zurück. «Das sieht gar nicht so alt aus», bemerkte sie und zeigte ihm die Vorräte.
«Ist es auch nicht», antwortete er. «Ich kümmere mich darum, dass die Sachen nicht abgelaufen sind, nur für den Fall, dass etwas passiert.» Er stockte, dann fügte er hinzu: «Tut mir leid, dass der Fall jetzt eingetreten ist.»
Diesmal war es Hannah, die den gutgemeinten Kommentar abtat. Ein kindischer Teil von ihr hoffte immer noch, dass sich alles wieder von selbst einrenken würde, wenn sie sich nur lange genug weigerte, zur Kenntnis zu nehmen, was in der Nacht passiert war. Doch Nate, der blass und reglos auf dem Sofa schlief, war der Beweis dafür, wie dumm dieser Gedanke war.
Das Wasser im Kessel auf dem Herd fing an zu kochen. Sie drehte das Gas ab, hängte Teebeutel in zwei Becher und übergoss sie mit kochendem Wasser. Während der Tee zog, ließ Sebastien sich in einen Lehnsessel vor dem Kamin nieder. Nachdem er es sich bequem
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