Der Bann (German Edition)
«Das habe ich doch schon.»
«Tu es einfach.»
Die plötzliche Schroffheit stand in starkem Kontrast zu der Sanftmut, die er noch Sekunden vorher gezeigt hatte.
«Vater rief mich in sein Arbeitszimmer. Er war verzweifelt, geradezu paranoid. Er sagte, Jakab wäre bereits im Haus und hätte jemanden vom Personal ersetzt. Er sagte, Nate und ich sollten Leah nehmen und weggehen.»
«Nicht so laut. Was geschah danach?»
«Leah spielte draußen. Nate ging, um eine Tasche zu packen, und ich holte Leah aus dem Garten. Plötzlich fielen Schüsse. Ich rief Nate über das Handy an.»
«Warum das?»
«Es ist ein großes Anwesen. Ställe, der ganze Betrieb. Ich wollte nicht mit Leah nach vorn, solange ich nicht wusste, was passiert war.»
«Und Nate nahm den Anruf entgegen.»
«Er sagte mir, ich solle Leah in den Wagen schaffen und dann zur Seite des Hauses zurücksetzen. Ich hatte noch nie im Leben so eine Angst. Ich wusste nicht, was los war. Ich überlegte für einen Moment, auf der Stelle zu fliehen, nur mit Leah. Ich hasste mich dafür. Dann setzte ich den Wagen zurück, und Nate kam herausgehumpelt.»
«Hat er gesagt, was passiert war?»
«Nur dass es einen Kampf gegeben hätte und dass er niedergestochen worden wäre. Ich glaube, er versuchte mich zu schützen, damit ich nicht zu sehr in Panik geriet.»
«Und du glaubst, Nate hat auf Jakab geschossen.»
«Ja.»
«Hast du sonst noch jemanden gesehen?»
«Nein.»
«Überhaupt niemanden?»
«Nein, ich –»
«Hannah, hör mir jetzt ganz genau zu.» Sebastien nahm ihre beiden Hände und hielt sie in seinen. «Hast du Nate validiert, seit er mit dir in den Wagen gestiegen ist?»
«Nein, ich –»
Sie hielt inne. Plötzlich wusste sie, warum er nach draußen gegangen war. Warum er die Tür geschlossen hatte. Warum er flüsterte.
Nacktes Entsetzen packte sie, bohrte seine Krallen in ihr Fleisch. «O mein Gott, nein …!», flüsterte sie.
Kapitel 6
Gödöllő, Ungarn
1873
L ukács saß im Werkzeugschuppen und spielte mit der kleinen Blindmaus, als er hörte, wie sein Vater nach ihm rief.
Er wusste, warum József ihn zu sich zitierte. Er wusste auch, dass er nicht die geringste Chance hatte zu entkommen. Die für den nächsten Tag geplante Reise türmte sich mit dunkler Unausweichlichkeit vor ihm auf. Lukács konnte die Ereignisse, die vor ihm lagen, genauso wenig aufhalten, wie er die Uhren in der Werkstatt seines Vaters mit einem hoffnungsvollen Atemzug aufzuhalten vermochte.
Es machte den Gedanken daran nicht gerade leichter.
Seine erste
Végzet
-Nacht. Eine von vieren in den nächsten Monaten, die seinen Eintritt in das Erwachsenenalter symbolisieren sollten. Eine Nacht des Feierns, voller Entdeckungen und voller Mädchen mit hochroten Gesichtern angesichts der Aufregung der bevorstehenden Frauwerdung.
Wenn er doch nur, sinnierte er, wenn er doch nur so vollkommen zur Welt gekommen wäre wie seine Brüder, anstatt ihnen Schande zu bringen. Lukács befürchtete, dass seine Altersgenossen wenig begeistert reagieren würden auf sein
végzet
.
Auf dem mit Sägespänen bedeckten Boden des Schuppens wankte die Blindmaus von links nach rechts, während sie ihre zerschmetterten Hinterbeine nachzog. Sie hatte keine erkennbaren Augen und schnupperte durch eine schrumplige rosige Nase, deren Falten, wie sein älterer Bruder ihm versichert hatte, an die Vulva einer Frau erinnerten. Lukács beobachtete, wie die Nase zitterte und bebte, während die Kreatur nach einer Fluchtmöglichkeit suchte. Der Vergleich war abstoßend. Typisch für Jani.
Die Blindmaus schien zu spüren, dass hinter ihr freies Gelände lag. Sie drehte sich um und benutzte ihre Vorderpfoten, um den restlichen Körper durch den Staub zu ziehen.
Lukács versperrte ihr den Weg mit einem Stock.
«Hier steckt er!»
Zwei Gestalten waren in der Tür aufgetaucht, eine groß und breit, die andere ein Kind. Die Sommersonne rahmte sie ein, doch Lukács kannte ihre Umrisse, genau wie die Stimme, die gesprochen hatte. Die größere der Gestalten duckte sich durch die Tür, kam herbei und starrte mit in die Hüften gestemmten Fäusten auf Lukács herab. «Soso. Da steckst du also. Bei den Ratten.»
«Geh weg, Jani.»
«Hörst du nicht, dass Vater nach dir ruft?» Jani drehte sich zu dem kleinen Izsák um, der schüchtern über die Schwelle in den Schuppen spähte. «Er ist also auch noch taub. Unser Bruder ist wahrlich gesegnet.»
«Ich bin nicht taub.»
Jani ging in die Hocke und starrte
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