Der Bann (German Edition)
erwartet.
«Wir haben keine andere Wahl», sagte Alice. «Lass es gut sein. Beruhige dich. Mir gefällt die Situation genauso wenig wie dir. Aber ich glaube ihm. Wir können ihm einen Fehler verzeihen, nach allem, was er für uns getan hat. Lassen wir ihn seine Arrangements vorbereiten, und sehen wir, ob er uns nach Hause bringen kann. Für den Moment müssen wir akzeptieren, dass er unsere einzige Chance ist.»
Nicoles Schultern sanken herab. Sie legte die Bücher auf die Theke. Dann nahm sie die Schnur und fing an, sie zusammenzubinden. Missmutig begegnete sie Charles’ Blick. Sie setzte an, um etwas zu sagen, doch dann änderte sie ihre Meinung wieder, schüttelte den Kopf und schwieg. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, nahm das Bündel mit den Büchern und stapfte aus dem Raum.
Charles sah ihr hinterher. Er spürte Alices Blick auf sich ruhen.
«Diese unberechenbare Irre von einer Mutter kann einen Fehler verzeihen», sagte sie mit ausdrucksloser Miene. «Zwei Fehler könnten gefährlich werden. Glauben Sie nicht, dass ich nicht jede Ihrer Bewegungen beobachte.»
«Sagt Ihnen der Ausdruck
hosszú életek
etwas?», fragte Charles seinen Kollegen Patrick Beckett.
Sie hatten es sich im Eagle and Child Pub in einer geschützten Nische beim Kamin gemütlich gemacht. Charles strich mit dem Finger über sein Pintglas und sah seinen Kollegen fragend an.
«Charles, ich bin sprachlos!» Der Professor für Vergleichende Philologie war ein großgewachsener Mann mit schnellen, vogelartigen Bewegungen und zu großen Zähnen für seinen Mund. Er beugte sich auf seinem Hocker nach vorn, und seine Hand schnellte vor, um sein Bier zu packen. Er setzte das Glas an die Lippen und trank einen Schluck. «Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass dieser Tag kommen könnte.»
«Was für ein Tag wäre das?»
«Der Tag, an dem Sie mich wegen irgendetwas um Rat fragen, Charles. Sie erweisen mir eine große Ehre, mein Freund. Ich scheine weit aufgestiegen zu sein in den akademischen Zirkeln, um so eine Auszeichnung zu verdienen. Ich trinke mein Bier besser schnell aus, bevor Sie sich’s anders überlegen, was? Ich wusste, dass es einen Grund geben muss, warum Sie mich auf ein Bier einladen. Was meinen Sie – ist es das erste Mal, dass Sie dieses Jahr so tief in Ihre Geldbörse gegriffen haben?»
«Seien Sie nicht albern, Patrick!», entgegnete Charles verlegen. Er warf einen Blick aus ihrer holzvertäfelten Nische, bevor er fortfuhr: «
Életek
. Ich habe überall danach gesucht, aber ich will verdammt sein, wenn ich auch nur den kleinsten Hinweis finde!»
«Ich bin froh, dass Sie das Licht gesehen haben, Charles, mehr kann ich dazu nicht sagen. Sehen Sie, man erfährt genauso viel über eine Gesellschaft, wenn man ihre Mythen studiert, als wenn man sich mit ihrer Geschichte beschäftigt.»
«Ich kann Ihnen nicht folgen.»
«Sie brauchen keinen Historiker, Charles. Sie brauchen einen Volkskundler.» Triumphierend deutete Beckett auf sich selbst. «An dieser Stelle kommt Beckett ins Spiel.»
«Ich hatte eigentlich den Eindruck, Sie wären Linguist?»
«Selbstverständlich. Um eine Sprache vollständig zu begreifen, muss man die Gesellschaft verstehen, in der sich diese Sprache entwickelt hat. Was wäre besser geeignet, als sich mit ihrer Folklore vertraut zu machen? Ich gestehe, dass ich sehr viel mehr Zeit damit verbracht habe, die alten Legenden zu lesen, als die meisten anderen, aber es ist ein faszinierender Stoff. Weit besser als der ganze Schund, der diesseits des zwanzigsten Jahrhunderts produziert wird.» Er hob rasch die Hand. «Ah, haha, ich vergesse unsere Umgebung, wie dumm von mir. Nichtsdestotrotz, Sie verstehen, worauf ich hinauswill.» Er klopfte aus irgendeinem unverständlichen Grund mit den Knöcheln auf den Tisch. Beckett steckte voller merkwürdiger Ticks, Marotten und Widersprüchlichkeiten. Es machte jede Unterhaltung mit ihm ermüdend.
«Also, was können Sie mir über
életek
erzählen?»
«Möglicherweise nur sehr wenig.» Beckett hob einen mahnenden Finger und trank einen schnellen Schluck von seinem Bier. «Obwohl, bei eingehender Betrachtung sicherlich mehr als die meisten. Auf der anderen Seite – wer vermag schon zu sagen, ob das, was ich zu wissen glaube, der Wahrheit entspricht? Womit ich korrekt meine, im Sinne von authentisch. Sehen Sie? Die Schwierigkeiten fangen schon an.»
«Ohne für den Moment auf die möglichen Ungenauigkeiten dessen einzugehen, was Sie gehört
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