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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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offen. Er wusste, dass er sie am Abend abgeschlossen hatte. Zweitens lag der Bücherstapel, den Nicole aus dem Hillman gerettet hatte, auf dem Tresen. Die Schnur, die das Bündel zusammengehalten hatte, lag lose daneben.
    Stirnrunzelnd trat Charles zum Fenster und sah nach draußen. Vor den Himbeersträuchern, die die Grenze seines Grundstücks kennzeichneten, stand Alice Dubois. Sie hatte dem Haus den Rücken zugewandt und rührte sich nicht. Sie stand da, mit verschränkten Armen wegen der morgendlichen Kühle, und starrte auf die Wiesen hinter dem Haus. Die tief stehende Sonne streichelte das Gras mit den ersten Strahlen.
    Charles beobachtete sie mit einem Gefühl von zunehmender Nervosität. Einmal mehr fragte er sich, was diese Frau und ihre Tochter in derartige Angst versetzt hatte, was es war, wovor sie sich fürchteten und vor dem sie flohen. Er fragte sich auch, was es mit seinem Verlangen auf sich hatte, mehr über Nicole Dubois herauszufinden. Wie oft war er ihr begegnet? Zweimal in der Bibliothek, ein drittes Mal draußen vor dem Campus und gestern, als es auf der Straße aus Oxford zu dem schweren Unfall gekommen war, den die beiden Frauen nur mit Glück überlebt hatten. Vier Begegnungen im Zeitraum von einer Woche, die ihn verzehrten wie nichts zuvor.
    Sein Blick wanderte zum Bücherstapel. Eigenartig – sie schienen von Alt nach Jung geordnet, wie eine Chronologie. Die untersten Bände waren gesprungen und rissig, die Ledereinbände bröckelten, die Seiten waren vergilbt. Ein Exemplar sah aus, als wäre es in letzter Sekunde aus den Flammen gerettet worden, mit schwarz verkohlten Rändern, wo das Feuer angefangen hatte zu fressen. Kein einziges trug einen Titel auf dem Rücken. Die Bücher in der Mitte des Stapels waren jüngeren Datums, das Leder zwar abgewetzt, doch immer noch geschmeidig. Einige ziemlich weit oben trugen Jahreszahlen in goldener Prägung, und das oberste von allen war das Notizbuch, in das Nicole geschrieben hatte, als er ihr in der Bibliothek des Balliol zum ersten Mal begegnet war.
    Diese Sammlung von Notiz- oder Tagebüchern enthielt die Antworten auf viele seiner Fragen zu ihrer derzeitigen Zwangslage, so viel wusste Charles. Nicole war immer noch voller Misstrauen gegen ihn. Bisher hatte sie ihm so gut wie überhaupt nichts erzählt – und das, obwohl er ihr das verlangte Vertrauen entgegengebracht hatte, obwohl er sie vom Unfallort weggebracht hatte, obwohl ihre Mutter ihn beinahe gesteinigt hätte und obwohl er beide Frauen in seinem Haus aufgenommen hatte. Und weil er all das getan hatte, hatte er doch wohl mindestens verdient zu erfahren, wovor sie davonliefen? Er wusste genau, was er wollte. Er war sich im Klaren über seine eigenen Absichten. Er wollte ihr bei ihrem Problem helfen … zugegeben, vielleicht wünschte er sich noch ein wenig mehr. Doch je weniger sie ihm über ihre Zwangslage erzählte, desto schwieriger war es für ihn, ihr zu helfen.
    Nicoles Mutter stand unverwandt am Ende des Gartens und starrte hinaus auf die Wiese. Mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte und die sein Verhalten rechtfertigte, noch während er sich selbst dafür tadelte, packte Charles das zuoberst liegende Buch und schlug es auf.
    Nicoles Handschrift war kompakt und sauber. Vieles war auf Französisch, doch hier und da bemerkte er auch ungarische Sätze. Er musste an die Texte denken, die sie in der Bibliothek studiert hatte.
Gesta Hungarorum
bei ihrer ersten Begegnung und
Gesta Hunnorum et Hungarorum
von Simon von Kezá bei der zweiten.
    Er entdeckte Passagen, die sie auf Deutsch verfasst hatte, und Sätze in einer ihm völlig unbekannten Sprache. Auf verschiedenen Seiten fand er Skizzen von Gebäuden, Kostümen, Orten. Zwischen zwei Seiten entdeckte er eine alte Schwarzweiß-Fotografie. Sie zeigte eine silberne Maske. Das Datum auf der Rückseite verriet das Jahr, in dem die Aufnahme entstanden war: 1946 . Charles blätterte weiter und fand verschiedene Ansätze für einen Familienstammbaum. Nicoles Name stand jedes Mal ganz unten. Die Namen direkt darüber klangen französisch, weiter oben deutsch. Die obersten Namen klangen mehr osteuropäisch.
    Ein Begriff kam immer wieder vor.
    Hosszú életek.
    Charles hatte ihn noch nie gehört oder gelesen und wusste nichts damit anzufangen. Nicole schien davon besessen, so viel stand fest. Sie hatte ihn viele Male niedergeschrieben, manchmal unterstrichen, manchmal so energisch, dass sich der Stift durch das Papier

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