Der Bann (German Edition)
interessiert an mir?» Der Klang ihrer Stimme war beinahe hysterisch.
«Soll ich den
Advocatus Diaboli
spielen?»
«Nur zu.»
«Es ist schwierig, das zu sagen, ohne Sie möglicherweise zu verletzen, aber Ihr Vater könnte krank gewesen sein.»
«Eine degenerative Erkrankung, die sein Verhalten erklären würde. Alzheimer.»
«Vielleicht. Oder etwas in der Art.»
«Und meine Mutter hat einen Unschuldigen verbrannt.»
«Das ist der heikle Punkt, ja.»
Nicole nickte.
«Wenn Jakab im Haus verbrannt ist, warum fliehen Sie dann immer noch?», fragte er unvermittelt.
«Weil meine Mutter eine Freundin im Dorf hatte, der sie sich anvertraute. Sie telefonierte ein paar Jahre später mit ihr, um herauszufinden, was geschehen war. Bis das Feuer den ersten Stock erreicht hatte, waren sämtliche Dorfbewohner auf den Beinen. Sie sahen einen Mann an einem der Fenster. Er schrie und wand sich. Er schien sich zu
kräuseln
. Dann schlug er das Fenster ein und warf sich nach draußen, aus einer Höhe, die jeden gewöhnlichen Menschen verkrüppelt oder umgebracht hätte. Er hingegen sprang auf und rannte davon.»
«Und er ist immer noch hinter Ihnen her.»
Sie nahm ihr Glas und kippte den Cognac hinunter. «Das ist der Grund, warum ich in England bin. In Oxford. Ich habe die ganze Zeit über Nachforschungen angestellt. Es gibt eine Menge Texte hier. Originale, Quellen, auf die ich nirgendwo sonst zugreifen kann.
Hosszú életek
bedeutet ‹langes Leben›, aber es bedeutet nicht ‹unsterblich›. Ich will wissen, wie lange das noch so weitergehen kann.»
Charles atmete tief durch. Er fand es schwierig, auf die Ungeheuerlichkeit dessen zu reagieren, was sie ihm soeben erzählt hatte. Einige Aspekte ihre Geschichte konnte er unmöglich glauben. Auf der anderen Seite war der Familie Dubois eindeutig etwas Tragisches zugestoßen. Ob Becketts Geschichten irgendeine Bedeutung hatten oder nicht, spielte plötzlich keine Rolle mehr für Charles. Exzentrisch oder nicht, er war bereit, ihr erneut zu vertrauen, wenn sie ihn darum bat; er würde die Mythologie beiseiteschieben, bis er herausgefunden hatte, was zu tun war.
Er ergriff über den Tisch hinweg ihre Hand. «Werden Sie zulassen, dass ich Ihnen helfe?»
Sie lachte, und diesmal rannen ihr die Tränen über die Wangen. Sie legte ihre eigene Hand auf seine. «Gewiss, Charles. Danke.»
«Darf ich die Tagebücher lesen?»
«Wenn es das ist, was Sie wollen.»
«Würden Sie mir die Bücher für eine Weile überlassen? Vielleicht eins oder zwei davon?» Sie zögerte, dann drückte sie seine Hand und nickte. Charles warf einen Blick auf seine Uhr. «Wir machen besser Schluss für heute. Morgen segeln Sie nach Frankreich zurück.»
«Da ist noch etwas, Charles.» Sie hielt immer noch seine Hand, und diesmal lächelte sie offen. «Allerdings klingt es auf Französisch besser.»
«Was denn?»
«Je crois que je vous aime aussi.»
Es war der wunderschönste Satz, den er jemals gehört hatte.
Kapitel 8
Snowdonia
Heute
E ine Woge aus Übelkeit drohte Hannah zu überwältigen, als ihr die volle Bedeutung von Sebastiens Worten bewusst wurde.
Hast du Nate validiert, seit er mit dir in den Wagen gestiegen ist?
Sie rang nach Luft. Atmete schnaufend ein. Hörte ein Summen in den Ohren, spürte Trockenheit im Mund.
Konnte sie sich auch nur entfernt vorstellen, dass der Mann unten jemand anderes war als ihr Ehemann? Die Möglichkeit, dass nicht Nate mit ihnen zum Farmhaus gefahren war, sondern ein anderer, zog derart verhängnisvolle Konsequenzen nach sich, dass sie kaum wagte, darüber nachzudenken.
Sie suchte panisch in ihrer Erinnerung nach einem Beweis, dass es Nate war – ihr Nate –, der verletzt auf dem Sofa in der Küche lag. Sie ging in Gedanken noch einmal die Flucht aus dem Haus ihres Vaters durch, die Worte, die sie im Wagen gewechselt hatten. Welche Worte überhaupt? Er hatte kaum etwas gesagt. Hatte ihr nicht einmal erzählt, was genau passiert war.
Aber er lag im Sterben!
Und wenn es uns nicht gelungen ist, seine Blutungen rechtzeitig zu stoppen, stirbt er vielleicht immer noch!
Ungebeten überkam sie eine Erinnerung: der Tag, an dem sie Nate geheiratet hatte. Keine Gäste. Kein Aufhebens. Ihr Mann, ihr Vater und ein Priester in einer Kirche am Ufer des Lake Annecy. Charles hatte die Hochzeitssuite eines Hotels mit Ausblick auf den See gebucht, doch Hannah schob Nate in den Wagen und fuhr mit ihm stattdessen hinaus in die Berge. In jener Nacht hatten sie sich
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