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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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unter freiem Sternenhimmel auf einer Decke geliebt und waren eingeschlafen, während sie zugesehen hatten, wie über ihnen ein kalter Mond den See mit Hochzeitsdiamanten bestäubt hatte. Am nächsten Morgen waren sie rechtzeitig für das Frühstück ins Hotel gefahren. Das Personal hatte sich alle Mühe gegeben, den Dreck auf ihren Kleidern und ihre geröteten Gesichter zu übersehen.
    Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen. Sie ballte die Fäuste, zwang sich, die Erinnerung auszusperren. Fokussierte sich stattdessen auf ihren Hass. Ihre Wut.
    Sie wollte nicht so recht glauben, dass ihr Mann tot war, doch sie würde nach unten gehen und es herausfinden. Und falls es Jakab war, der sich an Nates Stelle geschlichen hatte, dann gnade ihm Gott, denn das Einzige, was ihr dann noch geblieben war, wäre Rache, und sie würde furchtbare Rache nehmen. Sie würde ihn vernichten. Vollkommen. Sein Fleisch pulverisieren. Jeden einzelnen seiner Knochen zermalmen. Ihn in die Erde stampfen. Seine Eingeweide herausreißen. Ihn verbrennen. Auslöschen.
    Hannah wurde bewusst, dass sie zitterte. Sie sprang auf. Ihre Augen blickten entschlossen.
    Sebastien erhob sich. «Was denkst du?»
    «Ich muss die Wahrheit wissen.»
    Er nickte. «Ich komme mit dir.»
    Es ist nicht mehr nötig, leise zu sein, überlegte sie. Entweder ihr Mann lag unten auf der Couch oder ein monströser Doppelgänger.
    Du hast Leah bei ihm gelassen.
    Die Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens überschwemmte sie wie eine schwarze Woge, die über ihrem Kopf zusammenschlug und sich in ihre Lungen drückte.
    Du hast Leah zurückgelassen.
    Hannah keuchte. Stolperte. Würde er ihrer Tochter etwas antun? Alles, was sie in den Tagebüchern gelesen hatte, beschrieb eine Kreatur, die so kaputt war, so vollkommen unfähig, Mitgefühl oder Liebe zu empfinden, dass ihr Verhalten so wenig vorherzusagen war wie das eines Wahnsinnigen.
    Was sie noch Augenblicke zuvor für unmöglich gehalten hatte, wirkte mit einem Mal denkbar, geradezu
wahrscheinlich
. Während Hannah den Raum durchquerte, wurde ihr mit Entsetzen bewusst, dass sie bereits angefangen hatte zu trauern.
    Sie war zum Überleben erzogen worden: fliehen, kämpfen, trauern, akzeptieren, beschützen. Ihre Lehrer: drei Jahrzehnte der Angst, des Verlustes, der flüchtigen Momente der Freude in einer Welt voller Instabilität. Hannah konnte sich nicht an eine Zeit erinnern, in der sie nicht sogar in ihren glücklichsten Augenblicken – ganz besonders in ihren glücklichsten Augenblicken – daran gedacht hatte, wann es enden würde, wie es enden würde und wie die Einträge in ihrem eigenen Tagebuch lauten würden, falls sie lange genug erhalten blieben, um weitergegeben zu werden.
    Handle.
    Hör auf zu denken. Zögere nicht.
Handle.
Das Mantra hatte ihr bisher leidliche Dienste geleistet. Gedanken an die Zukunft würden sie nur lähmen.
    Vorhin – nach dem Verifizieren von Sebastiens Identität – hatte sie die Schrotflinte zurück auf das Regal in der Vorratskammer gelegt. Das Auftauchen des alten Mannes hatte sie beruhigt; so sehr, dass ihr eine geladene Waffe in Leahs Reichweite mehr Angst gemacht hatte als die Gefahr einer drohenden Entdeckung. Wie teuer mochte sie dieser Fehler zu stehen kommen?
    Hannah verließ das Schlafzimmer und stieg die Treppe hinunter. Sie passierte den Absatz, und die toten Augen des ausgestopften Falken starrten ihr nach.
    Es war nicht nötig, leise zu sein, trotzdem schlich sie unwillkürlich hinunter in den Flur. Nicht nötig, leise zu sein – jedoch sollte sie ihn auch nicht vorzeitig warnen. Sie hielt sich nah an der Wand, um das Knarren der Stufen unter ihren Füßen möglichst einzudämmen. Sebastien folgte ihr dicht auf den Fersen.
    Am Fuß der Treppe verharrte Hannah und lauschte.
    Wind. Das Klappern von Fensterläden. Regen, der laut wie Reiskörner gegen die Scheiben prasselte. Im Haus selbst war alles ruhig.
    Sie tappte über die Holzdielen zur Küche. Schrak zurück vor den harten Schatten in den Ecken, hervorgerufen vom trüben Licht des Leuchters. Suchte sie trotzdem ab, versuchte ihre Furcht zu verdrängen.
    Die erste Tür zu ihrer Rechten war geschlossen. Esszimmer. Die Wohnzimmertür, weiter vorn, stand weit offen. Aus der Dunkelheit dahinter kam ein kalter Luftzug. Sie dachte an das zerschlagene Fenster, das sie gesehen hatte. Und daran, dass sie es nicht genauer in Augenschein genommen hatte. Ein weiterer Fehler.
    Der Flur beschrieb einen Knick, bevor er vor der Küche

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