Der Bann (German Edition)
Geschichte zu recherchieren, doch er hatte herausgefunden, dass Gerold Novák, Ernas Vater, seine Tochter im Frühjahr 1879 als vermisst gemeldet hatte. Zwei Monate später war die Leiche wiederaufgetaucht, ausgegraben von den Schweinen eines Bauern. Sie war an einem Schuss in den Kopf gestorben.
Hatte Hans Fischer sie ermordet? Oder war sie so gestorben, wie es in den Tagebüchern geschrieben stand? Vielleicht hatte das Trauma des Mordes an seiner Frau zusammen mit einer Kindheit voll Aberglauben Hans zu der Überzeugung getrieben, dass
hosszú életek
für die Tat verantwortlich waren. Doch selbst wenn das zutraf, erklärte es nicht die Fortdauer der Geschichte in der Familie über Generationen hinweg, lange nachdem Hans gestorben war.
Nicole verstummte, als ein Kellner vorbeikam und zwei Französinnen am Nachbartisch Kaffee und Croissants servierte. Nachdem er wieder gegangen war, fuhr sie fort: «Hans und Carl ließen sich schließlich in Sopron nieder, einer Ortschaft an der Grenze zu Österreich. Er änderte ihren Familiennamen von Fischer in Richter.»
«An dieser Stelle fangen die Tagebücher an.»
«Hans schrieb das erste. Er fing damit an, weil er verarbeiten wollte, was passiert war, und um seine Erinnerungen an Erna einzufangen, damit er sie an Carl weitergeben konnte, sobald der Junge alt genug geworden war.»
«Er hat nie einen stichhaltigen Beweis für die Fähigkeiten der
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gesehen, richtig? Irgendeinen Beweis.»
«Charles, wir reden hier vom provinziellen Ungarn des neunzehnten Jahrhunderts! Hans brauchte keine Beweise, um zu akzeptieren, was man sich über die
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erzählte. Er musste mit eigenen Augen ansehen, wie der
Merénylő
seine Frau ermordete.»
«Das ist schon klar so weit. Ich wollte nur sicher sein.»
Nicole starrte ihn an, und ihre Augen verengten sich. «Nein, Charles. Er hat nie einen Beweis gesehen.»
«Entschuldige.» Er hob die Hände, legte sie auf den Tisch. «Sie lassen sich also in Sopron nieder. Dann viele Jahre lang kein weiterer Kontakt.»
«Carl wurde erwachsen und trat eine Stelle als Buchhalter bei der Familie Sárközy an, einer der Wein-Dynastien in der Region. Er war erfolgreich, sehr erfolgreich. 1906 heiratete er Helene, die älteste Tochter Sárközys.»
«Hans muss sehr erfreut gewesen sein.»
«Allerdings. Es war keine Zeit großer gesellschaftlicher Mobilität. Wie dem auch sei, zwei Jahre später bekamen Carl und Helene ein Baby: meine Großmutter Anna Richter. Alles war gut. Hans war Mitte fünfzig und sah seine Enkeltochter aufwachsen, während sein Sohn Karriere machte. Er führte weiter Tagebuch, wenngleich nicht mehr so regelmäßig. Trotz allem blieb ihm Jakab im Gedächtnis, und er vergaß nie, was Erna zugestoßen war. Sein ganzes Leben lang sammelte er Geschichten über die
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und hielt sie in seinen Tagebüchern fest. Und was soll ich sagen? Trotz der vielen Jahre der Recherche und der Forschung stammen einige meiner nützlichsten Informationen aus den Geschichten, die mein Ururgroßvater niedergeschrieben hat.»
«Er hat seine Aufzeichnungen sehr gewissenhaft geführt, so viel steht fest.»
«Hans’ Enkeltochter wuchs heran, und ihre Ähnlichkeit mit Erna Novák war verblüffend. Du hast die Übersetzungen gelesen, die ich dir dagelassen habe. In seinen Tagebüchern ging er mehrfach auf die verblüffende Ähnlichkeit ein, und das muss schmerzlich für ihn gewesen sein. Wie dem auch sei, 1926 wurde Anna achtzehn Jahre alt. Kurze Zeit später traf sie einen deutschen Chemiker mit Namen Albert Bauer und verliebte sich in ihn. Es dauerte nicht mehr lange, und die Dinge liefen aus dem Ruder.»
Charles hob den Deckel der Teekanne und rührte den Inhalt mit einem Löffel um. Er schenkte sich eine Tasse ein. Fügte Milch hinzu. Rührte um und sah zu Nicole hoch. Er konnte die Anspannung in ihrem Gesicht sehen, und das machte ihm Sorgen. Zwei Monate waren vergangen, seit sie und ihre Mutter England verlassen hatten. Er hatte fast drei Wochen lang nichts von ihr gehört, bis sie angerufen hatte, um ihm zu sagen, dass sie zurück in Paris und in Sicherheit war. Er wäre am liebsten auf der Stelle zu ihr gefahren, doch es hatte eine Weile gedauert, den Urlaub im College zu arrangieren.
Er hatte immer noch Mühe, die ernsthafte, eigensinnige Person Nicoles mit der Geschichte in Einklang zu bringen, an deren Wahrheitsgehalt sie offensichtlich nicht zweifelte. Er hatte die Wochen vor seinem Urlaub damit
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