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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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spürte, wie er allmählich unruhig wurde. Er konnte nicht sagen, ob es an Nicoles Geschichte lag oder dem gehetzten Blick in ihren Augen, während sie erzählte.
    Sie trank einen Schluck von ihrem Espresso und verzog das Gesicht. «Jakab hatte sie im Wohnzimmer an Sessel gefesselt. Er verging sich erbarmungslos an ihnen. Wir glauben, er wollte Informationen, wo Anna sich versteckt hielt. Er war beinahe so weit gewesen, Albert endgültig zu ersetzen. Er hatte sich sicher genug gefühlt in seiner Kenntnis der Vergangenheit des Mannes und seiner tagtäglichen Gewohnheiten, um in seine Person zu schlüpfen. Seine Beute war ihm buchstäblich im allerletzten Moment entkommen.»
    «Natürlich weißt du auch davon nichts mit Bestimmtheit», sagte Charles und war sogleich erschrocken über seinen Mangel an Feingefühl.
    Nicoles Augen blitzten verärgert. «Natürlich nicht. Aber es ist nicht gerade eine wüste Spekulation, oder? Die Familie hatte keine Feinde. Selbst die Art und Weise, wie sie gefoltert wurden, erzählt eine Geschichte.
Nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sprechen
. Ich erspare dir die Details.» Sie schüttelte den Kopf. «Jakab erfuhr nicht, wohin Anna gegangen war, weil Hans darauf bestanden hatte, dass sie es ihm nicht verriet. Jakab konnte das natürlich schwer glauben. Er hatte achtundvierzig Jahre benötigt, die Familie aufzuspüren. Als es ihm gelang, fand er eine wunderschöne junge Frau, ein Spiegelbild der Erna, die er vor so langer Zeit verloren hatte. Und dann verlor er sie ebenfalls. Es raubte ihm den Verstand. Und weil er ein kranker Irrer ist, ließ er seine ganze Wut an der Familie aus, die versuchte, Anna zu schützen.»
    Charles stieß die Luft aus. «Und dann?»
    «Den Rest kennst du. Ich habe ihn dir erzählt, bevor wir England verlassen haben. Anna und Albert gingen nach Deutschland, wo sie heirateten. Kurze Zeit später kam meine Mutter zur Welt. Dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Albert wurde eingezogen und kam an die Ostfront. Er starb in Stalingrad durch die Kugel eines Scharfschützen. Nach dem Krieg floh Anna mit meiner Mutter aus Deutschland. Sie ließen sich in Frankreich nieder.»
    Charles nickte, während er auszurechnen versuchte, wie alt Jakab zu dem Zeitpunkt gewesen sein musste, als er Eric Dubois fand.
    «Ich wurde 1952 geboren», sagte sie. «Dreiundsiebzig Jahre nach Erna Nováks Tod. Und ich erinnere mich, was mit meinem Vater Eric geschah.» Sie erschauerte. «Komm, Charles, gehen wir. Ich möchte hier raus.»
    Er erhob sich und warf eine Handvoll Münzen auf den Tisch. Als sie das Café de Flore verließen, bemerkte er, wie er die Kellner verstohlen beobachtete, ob sich einer von ihnen für ihn interessierte.
     
    Sie spazierten durch die geschäftigen Straßen des nachmittäglichen Paris, überquerten die Pont du Carrousel, wandten sich beim Louvre nach Westen und gelangten schließlich in den Jardin des Tuileries. Als sie die Skulptur von Theseus und dem Minotaurus passierten, hakte sich Nicole bei ihm ein. Charles war so überrascht von der Geste, dass er sie von der Seite ansah, doch sie tat, als bemerkte sie es nicht.
    Der Himmel über ihnen war strahlend blau. Herbstliches Sonnenlicht schien schräg auf die vielen Statuen und überzog den milchweißen Stein mit dunklen Schatten. Einheimische und Touristen bevölkerten den Park, Büroangestellte eilten an Scharen von jungen Müttern auf Parkbänken mit vor ihnen aufgereihten Kinderwagen vorbei. Eine kreischende, lachende Schulklasse folgte einem Trio von streng dreinblickenden Lehrerinnen. Ein Landstreicher schlurfte vorbei. Er schob einen Einkaufswagen mit Bergen von blauen Säcken und anderen Habseligkeiten, darüber eine flatternde Trikolore.
    Obwohl Charles sich dabei albern vorkam, konnte er nicht anders, als aufmerksam die Fremden zu studieren, die ihnen begegneten, und ihnen länger in die Gesichter zu starren, als es die Höflichkeit erlaubte. Manche lächelten, andere ignorierten ihn oder blickten verärgert drein, als sie vorbeigingen.
    «Wie machst du das?», fragte er sie schließlich, als sie die Statue
La Misère
passierten.
    «Wie mache ich was, Charles?»
    Er atmete tief ein und wieder aus. «Leben, wie du lebst. Ständig nach Gesichtern in der Menge suchen, ständig die Frage, wem du trauen kannst und wem nicht.»
    «Welche Wahl habe ich?»
    Beispielsweise, diesen Wahnsinn einfach abzustellen
, wollte er erwidern.
Dich zu weigern, noch einen Moment länger an diesen Unsinn

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