Der Baron und die widerspenstige Schöne
Hat mein Drachen Ihnen erlaubt, mich zu besuchen? Das ist eine große Ehre, sie hat sonst niemandem Zutritt gewährt.“
Ein leichtes Lächeln machte die strengen Züge der Zofe weicher. „Nun, Madam, der Arzt hat gesagt, dass Sie sich ausruhen müssen. Und Sie, Miss …“ Sie wandte sich mit strengem Blick an Carlotta. „Sie dürfen die Herrin nicht überanstrengen.“
„Nein, nein, das wird sie schon nicht“, sagte Adele. „Sie wird hier bei mir sitzen und mir alles berichten, was unten vor sich geht. Ich werde keinen Finger rühren.“ Sie sah ihrer Zofe nach, die das Zimmer verließ, dann winkte sie Carlotta zu sich. „Ach, setzen Sie sich doch an mein Bett, wo ich Sie besser sehen kann. Es war so still und langweilig ohne James heute, aber ich sagte ihm, dass er gehen müsse, da seine Gäste ohne ihren Gastgeber schlecht einen Jagdausflug machen können.“
„Ich glaube, er hätte es vorgezogen, bei Ihnen zu bleiben.“
„Vielleicht, aber er kann nichts für mich tun. Der Arzt sagt, dass ich bald wieder wohlauf sein werde, indes muss ich mich eine Weile sehr schonen. Das ist nicht einfach für mich, meine Liebe. Sie wissen ja, wie gerne ich spazieren gehe. Aber der Doktor ist der Ansicht, Ruhe sei dringend notwendig, wenn ich das Kind nicht verlieren will.“ Adele hielt inne und legte die Hände auf den Bauch. Lächelnd schaute sie auf. „Also, meine Liebe, erzählen Sie mir alles, was unten geschieht. Hat Viscount Fairbridge sich der kleinen Julia endlich erklärt? Ist Mr. Woollatt zurückgekehrt?“
„Nein, und nochmals nein, Madam. Aber beide Ereignisse stehen unmittelbar bevor.“
Sie plauderten eine Weile, und als das Gespräch schließlich stockender wurde, machte Adele eine Geste zu ihrem Nachttisch. „Ich würde zu gerne Mrs. Radcliffes Buch zu Ende lesen, aber mein Kopf schmerzt jedes Mal, wenn ich es versuche. Würden Sie mir vorlesen, Carlotta? Nur ein Weilchen.“
Carlotta stimmte gerne zu, und sie verbrachten eine angenehme Stunde lesend mit „Udolphos Geheimnissen“. Sie hatten gerade mit dem zweiten Teil begonnen, als Adeles resolute Zofe zurückkehrte und meinte, ihre Herrin müsse nun ruhen. Carlotta stand sofort auf und gab Adele erst gar keine Gelegenheit, Einwände zu erheben. Mit dem Versprechen, am nächsten Tag wieder vorbeizuschauen, sollte Adele noch nicht aufstehen können, ging Carlotta mit dem ersten Band von Mrs. Radcliffes Erzählung aus dem Zimmer.
Das Haus lag ruhig, außer den Lakaien war niemand in der Halle zu sehen. Carlotta ging in die Bibliothek, um das Buch zurückzustellen. Wie in allen Zimmern brannten auch hier bereits die Kerzen und warfen ihr warmes Licht auf die Regale. Vor den Fenstern lauerte die Dunkelheit.
An der Tür verharrend, schaute Carlotta sich um. Sie hatte kaum Zeit in der Bibliothek verbracht und wusste nicht, welche Schätze sich in den Regalen verbargen. Langsam durchquerte sie das Zimmer, dabei die Titel auf den Buchrücken überfliegend, von denen sich die meisten als Lehrwerke herausstellen. Erst auf der anderen Seite des Zimmers fand sie, wonach sie suchte. Einige Ausgaben populärer Romane tummelten sich in buntem Durcheinander dicht gedrängt auf einem Regal. Über Adeles offenkundig mangelnden Ordnungssinn lächelnd, stellte sie das Buch ins Regal und befand sich schon auf halbem Weg wieder zur Tür, als die Sonne plötzlich durch die Wolken brach und einen kurzen Augenblick lang ihr Licht durch die hohen Fenster auf eine große Leinwand warf. Es war der Tiepolo, mit dem Sir Gilbert seine Spielschulden bei James Ainslowe beglichen hatte. Carlotta erinnerte sich daran, dass ihr Vater oft in Bewunderung von dem Künstler gesprochen hatte. Sicher würde sie ihm eine Freude machen können, wenn sie ihm das Bild in all seinen Details beschrieb.
So rasch, wie sie gekommen war, verschwand die Sonne auch wieder und tauchte das Zimmer in Dämmerlicht. Carlotta nahm einen Kerzenleuchter und ging zu der Wand, um das Gemälde zu studieren. Es war eine klassische Szene. Mäzenas kniete zu Füßen des römischen Kaisers. Carlotta hielt die Kerze hoch und besah sich das Bild. Dann runzelte sie die Stirn. Der Stil kam ihr merkwürdig vertraut vor, die lebhaften Farben, die fließenden Linien. Sie trat einen Schritt näher und begutachtete das Gewand, das von Mäzenas’ Schultern fiel und die Bildmitte einnahm. Dann keuchte sie auf. Dort in den Falten war unauffällig in das Muster eine winzige Schnecke gemalt.
Carlotta trat einen
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