Der Bastard von Tolosa / Roman
trieb, bekamen wir nicht zu sehen.
»Woher kommst du, Enric?«, fragte ich den Jungen.
Er zuckte nur mit den Schultern. Offensichtlich wollte er nichts preisgeben. Aber seine Mundart stammte so eindeutig aus dieser Gegend, dass wenig Zweifel über seine Herkunft bestand.
»Ist dieser Nemo ein Edelmann?« Wiederum keine Antwort.
»Wie lange kennst du ihn?«
»Seit langem«, sagte er endlich.
»Warum ist er so besorgt um dich, wenn er nicht dein Vater ist?«
»Er und meine Mutter …« Verlegen schwieg er.
»Und wo versteckt ihr euch?«
Er runzelte die Stirn und blieb stumm. Ich ließ es fürs Erste dabei bewenden. Wir setzten unsere Reise fort und kamen durch bewohntere Gegenden. Einzelne Höfe, einfache Bauernhütten. Man grüßte uns unterwürfig mit ängstlichen Blicken. Wir waren Fremde, und dass wir einen gefesselten Gefangenen mitführten, flößte wenig Vertrauen ein. Ich deutete auf den Bergrücken südlich von uns, der uns die Sicht auf den Pireneus versperrte.
»Dahinter liegt Peirapertusa, eine mächtige Burg. Sie beherrscht einen Teil der südlichen Corbieras.«
»Freund oder Feind?«, fragte Hamid.
»Feind kann man nicht sagen, aber früher in meiner Jugend hat es öfter Übergriffe gegeben. Viehdiebstähle meistens. Einmal wurde ein Hof ausgeplündert, ein andermal eine Magd vergewaltigt. Es hieß immer, es seien junge Heißsporne von der Burg gewesen. Doch jedes Mal, wenn Cecilia sich bei Odo beklagte, folgten eine Entschuldigung und etwas Silber als Schadensersatz. Wie es heute um nachbarliche Freundschaft steht, wer weiß. Am besten, wir halten uns fern.«
Und so nahmen wir wieder die Bergpfade, die uns über einsame, wenn auch beschwerliche Wege an eine Stelle brachten, wo wir des Klosters von Cubaria ansichtig wurden und weiter östlich den steilen Felsen erblickten, auf dem Rocafort errichtet ist. Es war schon kurz vor Sonnenuntergang, und die letzten Strahlen ließen die Burg gegen den Hintergrund der grünen Äcker und dunklen Wälder weißrötlich aufleuchten. So hatte ich Rocafort immer in Erinnerung gehabt. Mir schlug das Herz bis zur Kehle, und ich merkte lange nicht, dass Adela mich am Arm zupfte und Fragen stellte.
»Was sind das für Felsen«, wollte sie wissen. Sie hatte sich von ihrem Schrecken erholt und ihre Neugier wiedergefunden. Sie wies auf die mächtigen grauweißen Felsbastionen, die Rocafort in einiger Entfernung voneinander flankierten.
»Auf der westlich gelegenen Felsgruppe gibt es ein paar Mauerreste. Vielleicht nur eine verlassene Einsiedelei.« Ich deutete auf den zweiten Felsen, östlich und aus unserer Sicht näher gelegen. »Dort war eine heidnische Kultstätte. Von Menschenopfer wird gemunkelt. Da spukt es nachts, sagen die Bauern und halten sich fern.«
»Menschenopfer?« Adela bekreuzigte sich.
»Nur Gerede aus alten Zeiten. Man muss so etwas nicht glauben.«
Sie runzelte die Stirn und starrte zu den Felsen hinüber. Ich zeigte ihr das Kloster von Cubaria mit seiner gedrungenen Kirche und das enge Tal dahinter, an dessen Ende das Flüsschen Agli in die unwegsame Schlucht stürzt, wo irgendwo weiter unten, verloren in der Wildnis, die Einsiedelei Galamus liegt. Dort also lebte jener Bruder Jacobus, der angeblich in die Winkelzüge meines Onkels eingeweiht war. Bei Gelegenheit würde ich ihn aufsuchen.
Wir ritten noch eine gute Stunde weiter, bis das Licht zu schlecht für diese schmalen Bergpfade wurde. In einer Höhle, die ich kannte und kaum weiter als ein paar Meilen von Rocafort gelegen war, errichteten wir unser Nachtlager. Müde, wie wir waren, zog ich es vor, die Nacht im Freien zu verbringen, um den Aufruhr, den unsere Ankunft auslösen würde, auf den Morgen zu verschieben.
***
»Nichts Auffälliges zu sehen.«
Hamid und ich hockten noch vor Sonnenaufgang zwischen Büschen versteckt, nicht weit von der Dorfwiese entfernt. Frühes Vogelgezwitscher erscholl, ein erster schwacher Sonnenstrahl berührte hoch oben die Turmspitze auf seiner Ostseite. Dort hing ein Wimpel von der Fahnenstange, aber Wachen waren keine zu sehen. Unten im Flusstal trieben Nebelschleier, und das Dorf war noch halb in graue Dunkelheit gehüllt. Irgendwo krakeelte ein Hahn.
Unsere Gefährten hatten wir ein Stück weiter zurückgelassen. Ich war vielleicht übervorsichtig, aber ich wollte erst einmal die Lage beurteilen, mir ein Bild machen. Das ist, was ich den anderen gesagt hatte. In Wahrheit war ich einfach zögerlich und fand es schwer, so plötzlich mitten ins
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