Der Bastard
weiter, war aber auch kein Rüc k schritt. Es blieb weiterhin die Frage, warum niemand den Jungen vermisste. Sie räumte auf und nahm die Unterlagen mit in ihr Büro, um Kilian anzurufen und ihm das Ergebnis mitzuteilen. Sie legte di e P a piere auf ihren Schreibtisch und ärgerte sich, dass sie ihre persönlichen Unterlagen vorher nicht aufgeräumt hatte. Sie musste aufpassen, dass die Papiere später nicht durcheinandergerieten. Sowohl Kilians als auch Heinleins Apparat war besetzt. Sie drückte auf automatische Wahlwiederholung und wartete, dass die Leitung frei wurde. Sie tromme l te mit den Fingern auf den Tisch, ihre Augen blickten auf das Durcheinander von Papieren, das den gesa m ten Tisch bedeckte. Sie schaute auf die Analyseergebni s se des Jungen, blickte nach rechts. Das Trommeln erstarb. Ihr Blick wanderte von links nach rechts. Dann setzte sie sich kerzengerade auf, nahm die A nalyseergebnisse des Jungen in die eine und das Papier rechts davon in die andere Hand. Sie begriff nicht, was sie sah. Es war unmöglich. In diesem Moment klingelte das Telefon, und sie zuckte zu sammen. Sie riss den H ö rer von der Gabel.
«Rosenthal.»
Doch sie hörte nur ein weiteres, diesmal leiseres Klingeln. Erst jetzt begriff sie, dass die Leitung zu Kilians und Heinleins Büro frei war. Heinlein meldete sich. Pia brauchte einige Sekunden, um sich zu erinnern, weswegen sie Schorsch angerufen hatte.
«Ich wollte euch nur mitteilen, dass die Frau aus Schweinfurt nicht die Mutter des Jungen ist.»
«Wovon sprichst du?»
Pia berichtete von Sabines Recherche und deren Ergebnis. Heinleins Reaktion war ungehalten.
«Seit wann gibst du Sabine Anweisungen?»
«Es war eine spontane Idee, aber leider bringt es uns nicht weiter. »
«Lass mich meine Arbeit tun, und mach du deine, mehr verlange ich nicht.»
«Schon gut», lenkte Pia ein, «ich werde es mir merken.»
Auch Heinlein war nicht nach Streit.
«Du kommst doch heute Abend? Claudia hat schon den halben Keller rauf geschafft.»
«Wieso Keller? Ich dachte, wir grillen.»
«Na, Babysachen natürlich.» Heinlein lachte. «Du kennst doch Claudia. Ich glaube, es ist alles da, vom Bettchen bis zur Milchflasche.»
Pia stand der Sinn im Moment nicht nach Schnullern. Sie verabschiedete sich von Heinlein und starrte dann wieder auf die Bilder und Zahlen, die vor ihr l a gen.
Wie betäubt verglich sie das Ergebnis der mitochondrialen DNA-Analyse des toten Jungen mit der ihrer Schwester Anna. Pia hatte ihr gezeigt, wie man nachweisen konnte, dass sie dieselbe Mutter hatten. Nun bewies dieses Stück Papier, das sie zufällig vo r hin aus dem Schrank gezogen hatte, dass der tote Junge …
Pia schluckte. Er konnte nur Annas Kind sein. Und doch wieder nicht. Anna war niemals schwanger gewesen. Pia lehnte sich zurück und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und durch die Haare. Der Junge war dreizehn Jahre alt. Hinzu kamen zehn M o nate Schwangerschaft. Sie rechnete und musste sich schließlich eingestehen, dass sie es nicht ganz s i cher ausschließen konnte. Sie sah Bilder in ihrem Kopf aufblitzen. Annas Hochzeit, der Streit, die Beerdigung. Dazwischen war Funkstille gewesen.
Sie holte noch einmal alle Unterlagen über den Junge n u nd alle Analyseergebnisse, die sie von Anna ha t te. Und auch wenn sie es nicht begreifen konnte, es gab keinen Zweifel: Der tote Junge war ihr Neffe.
13
P ia wickelte den Blumenstrauß aus seiner Papierumhüllung und drückte ihn Kilian in die Hand. Er hatte sie vor einer halben Stunde in ihrer Wohnung im Wi n terleitenweg abgeholt.
Auf der Fahrt hatten sie geschwiegen. Pia stand noch unter Schock. Sie hatte die Identität des Jungen aufgeklärt und damit ein noch größeres Rätsel geschaffen. Nach der Entdeckung hätte sie sofort Heinlein verständigen müssen. Sie hatte es aufgeschoben. Einige Male während der Fahrt hatte sie den Mund geöffnet, doch es war kein Wort über ihre Lippen g e kommen.
Was hätte sie sagen sollen? Der Junge ist mein Neffe, der Sohn meiner vor Jahren verstorbenen Schwester. Meiner Schwester, von der ihr nichts wisst. Meiner Schwester, mit der ich das letzte knappe Jahr ihres Lebens nicht gesprochen habe, über deren Schwange r schaft mich niemand informiert hat. Ebenso wenig wie über die Existenz des Kindes.
Kurz bevor sie in Grombühl vor dem Haus der Familie Heinlein angekommen waren, hatte ein anderer Gedanke ihren Mund verschlossen. Man würde sie von den Ermittlungen ausschließen. Mehr noch,
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