Der Bastard
versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Doch statt Ordnung verursachte die Ruhe, die sie endlich fand, nur noch mehr Chaos. Bilder und Gesprächsfetzen schwirrten ihr durch den Kopf.
Wie bei einer Zeitreise sprangen ihre Gedanken in die Kindheit, zu Annas Beerdigung, zurück in die Jugend. Sie legte eine Hand auf die leichte Wölbung ihres Bauches. Spätestens jetzt hätte sie den Groll begraben, sich bei Anna entschuldigt und ihr von dem Kind erzählt. Anna, du wirst Tante , und diese Neuigkeit hä t te den Anfang leichter gemacht und den Streit aus der Vergangenheit als Torheit erscheinen lassen.
Doch Anna war tot, sie hatte nicht angerufen und freudig verkündet, Pia, du wirst Tante. Sie hatte Maximilian betrogen, war schwanger geworden, ha t te das Kind geboren und war für immer verschwu n den.
Pia setzte sich auf und griff nach der Teetasse. Nac h A nnas Tod war ihre Trauer für kurze Zeit mit Schuldgefühlen durchsetzt gewesen. Natürlich war sich Pia bewusst, dass Annas Unfall nichts mit ihrem Zerwürfnis zu tun hatte. Aber trotzdem war dieses Gefühl nie ganz verschwunden, und jetzt bahnte es sich wieder e i nen Weg in ihr Bewusstsein. Anna war in einer schwierigen Lage gewesen und hatte sich nicht an sie gewandt. Pia hatte als Schwester versagt.
Sie stellte sich die verzweifelte Anna vor, die w e der ein noch aus wusste, zum Telefonhörer griff, um Pia anzurufen, und sich doch nicht traute. Pia wusste um ihr Temperament, doch hätte sie nie gedacht, dass es eine Mauer bilden könnte zu den wenigen Menschen, an denen sie hing.
Sie dachte an Kilian. Er und Heinlein tappten vö l lig im Dunkeln. Sie tröstete sich damit, dass das Wi s sen um die Herkunft des Jungen Kilian und Heinlein auch nicht weiterbringen würde. Aber ihr war klar, dass sie sich damit selbst belog.
Sie aß in der Küche stehend ein Brot und ging dann zum Besenschrank im Flur. Ganz oben lag der Karton mit Annas Hinterlassenschaft. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ den Karton langsam hinuntergleiten. Dann setzte sie sich wieder aufs S o fa.
Es war ein wildes Durcheinander. Pia hatte alles hineingepackt, was sie an Anna erinnerte und aus e i ner gemeinsamen Vergangenheit stammte, auße r dem die Dinge, die Annas Mann Maximilian ihr ü berlassen hatte, und dazu alle Unterlagen, die Pia sich besorgt hatte, um sich Klarheit über die Todesumstände Annas zu verschaffen.
Nachdem sie eine halbe Stunde gemeinsame Kinderbilder betrachtet hatte, gab sie sich einen Ruck und beschloss, systematisch vorzugehen. Bis zu i h rem Zerwürfnis hatten sie ein gutes und vertrautes Verhältnis zueinander gehabt. Aus dieser Zeit gab es nichts, das ihr weiterhelfen würde.
Sie sortierte alle Dinge in zwei Haufen – vor der Hochzeit und nach der Hochzeit. Auf der Hochzeit hatten sie sich zerstritten. Den Nach-der-Hochzeit-Haufen raffte Pia zusammen, trug ihn zum Sofa und begann, die Sachen chronologisch zu ordnen.
Da waren die Hochzeitsbilder. Es folgten einige Bilder aus Afrika, die ihr Maximilian überlassen hatte. Dann war sie auch schon bei den Dingen, die A n nas Tod betrafen.
Ein Umschlag mit Polizeiberichten und Fotos von dem Auto, das man verlassen im Busch gefunden hatte. Ein weiterer, kleinerer Umschlag mit Fotos vom Gedenkgottesdienst, der für Anna abgehalten worden war, und dem anschließenden Essen, an dem Pia nicht teilgenommen hatte. Die Bilder hatte ihr Annas Schwiegermutter Clara zusammen mit einem freundlichen und mitfühlenden Brief geschickt, nebst einer Liste der anwesenden Trauergäste, von denen Pia n a hezu niemanden persönlich kannte.
Das offizielle Hochzeitsfoto zeigte Anna und Maximilian im Hofgarten. Sie standen im Rosengarten vor einer Fontäne, im Hintergrund die Würzburger Residenz. Die hochzeitliche Aufmachung machte aus Anna einen anderen Menschen. Sie wirkte mädchenhaft und schüchtern. Alles an ihr schien weich und zart. Das Haar locker aufgesteckt, eine gelockte Haarsträhne über der Schulter, Blüten im Haar. Das Kleid natürlich champagnerfarbe n u nd sehr elegant und feminin. Sie hatten beide lachen müssen, als sich Anna nach dem Herrichten im Spiegel angeschaut hatte.
«Wie Fasching», lästerte sie, «nur dass ich noch nie eine so perfekte Verkleidung hatte.»
Pia konnte nur den Kopf schütteln. «Wieso tust du dir das an?»
«Maximilians Eltern ist das nun mal wichtig, und mir ist es egal.»
Es war alles gutgegangen. Pia hatte das ganze Brimborium kommentarlos über sich ergehen
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