Der Bastard
lassen und sogar versucht, sich gesittet mit ihrem Tisc h herrn zu unterhalten, einem fünfzigjährigen Chefarzt von irgendeiner bedeutenden Klinik. Sie hatte seine stieren Blicke auf ihr Dekolleté ertragen, war über seine anzüglichen Bemerkungen nach zu viel Wein hinweggegangen.
Als er aber unter dem Tisch zum zweiten Mal an ihr Knie gefasst hatte, war es aus mit Pias Geduld. Sie sprang auf, schnappte sich den Wasserkrug vom Tisch und kippte den gesamten Inhalt in den Schoß des Mannes. Dann ging sie hinaus. Die Stille, die sie hinterließ, nahm sie nicht mehr wahr. Anna ging ihr nach.
«Kannst du dich nicht wenigstens an meinem Hochzeitstag beherrschen? Wieso denkst du nicht einmal an jemand anderen als nur an dich selbst?»
Anna standen Tränen in den Augen. Doch Pias Wut war immer noch nicht verraucht.
«Frag lieber diesen Idioten, wieso er sich nicht beherrschen kann.»
«Das hättest du auch unauffälliger und diplomatischer lösen können.»
«Lächeln und seine Hand wegschieben? Und anschließend über das vorzügliche Dessert säuseln?» Pia holte tief Luft.
«Es tut mir leid, aber ich lass mich nicht befu m meln. Trotzdem, es tut mir leid, okay?»
Doch für Anna war es nicht okay.
«Ich habe dir erklärt, wie wichtig dieses Fest für Maximilians Eltern ist. Es sind lauter wichtige Leute da, es geht auch um Geld. Und du musst gleich einen Skandal provozieren. Dr. Fleischmann ist einflussreich.»
Pia schaute Anna fassungslos an. «Anna, es ist deine Hochzeit, was quatschst du da? Wir sind doch nicht auf einer Werbeveranstaltung für die Sibelius-Klinik.»
Anna winkte ab.
«Du bist so selbstherrlich. Du machst nie einen Fehler und bist nicht bereit, anderen Fehler zu verzeihen.» Anna wandte sich ab und ging auf die Tür zu. «Nicht einmal unseren Eltern», fügte sie leise hinzu.
«Sie haben für die Stasi gearbeitet, was gibt es da zu verzeihen?»
«Nichts, aber sie waren deine Eltern.»
«Jetzt hör auf mit diesen alten Geschichten. Sie sind tot. Von mir aus sage ich es noch einmal: Es tut mir leid.»
Aber Anna blieb stur, und Pia verließ wütend das Haus. Am nächsten Tag hatte sie Anna angerufen, doch Annas Laune war unter dem Nullpunkt gew e sen.
«Ich will jetzt nichts von dir hören.»
Dabei war es geblieben. Beide hatten geschmollt, bis es zu spät gewesen war.
Aus der folgenden Zeit gab es nur einige Fotos, die Anna in Afrika zeigten. Eines war in einem Hütte n dor f a ufgenommen, Anna umringt von lauter hal b nackten lachenden Kindern. Ein anderes zeigte sie und Maximilian vor einem Holzhaus. Von Schwangerschaft ni r gends eine Spur.
Die wenigen Briefe, die Anna von ihrer Freundin Susanne aus Berlin erhalten hatte, enthielten auch keinerlei Anhaltspunkte. Der letzte war offenbar kurz vor Annas Tod geschrieben worden. Susanne schien mit einem neuen Mann und einem neuen Job beschäftigt gewesen zu sein. Keine Frage nach Annas Schwange r schaft. Auf der Rückseite des Umschlages stand eine mit Bleistift geschriebene Nummer. Pia konnte nicht sagen, ob es Annas Handschrift war. Wahrscheinlich Susannes Telefonnummer.
Pia sah kurz den Inhalt des Umschlags durch mit den Fotos des Ortes, an dem man Annas Auto aufgefunden hatte, und den abschließenden Polizeibericht. Aber sie hatte auch nicht erwartet, darin etwas Aufschlussreiches zu finden. Sie klappte den Karton zu und ließ sich ratlos aufs Sofa sinken.
Ihr Neffe musste dreizehn Jahre alt sein.
Er hatte irgendwo gelebt. In Afrika oder in Deutschland. Bei seinem Vater oder anderen Menschen. Nun war er tot.
Warum vermisste ihn niemand? Ein Kind konnte nicht eine ganze Nacht wegbleiben, ohne dass sich jemand sorgte und die Polizei informierte. Er sah nicht verwahrlost aus, jemand musste sich um ihn gekümmert haben.
Sie hatte dreizehn Jahre lang einen Neffen gehabt und nichts davon gewusst. Ich werde nie mehr in meinem Leben Tante sein, dachte sie. Ich bin niemandes Kind mehr , niemandes Schwester. Ich bin a l lein, und auch mein Kind wird allein sein. Es wird keine Tante und keinen Onkel, keine Cousins und Cousinen haben. Und dieser Gedanke war es schließlich, der die Tränen befreite.
Über eine Stunde lag sie zusammengerollt auf dem Sofa und weinte still vor sich hin. Dann schnäuzte sie sich, stand auf und wusch sich im Bad das Gesicht. Es half niemandem, am allerwenigsten dem Kind in i h rem Bauch, wenn sie sich dem Selbstmitleid hingab.
Nur eines konnte sie noch tun, für Anna und ihr Kind. Sie musste herausfinden, was
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