Der Bauch von Paris - 3
Chantemesses Schelten gewöhnt. Sie ließen ihre Kindheit andauern, gingen ohne Scham mit ungekünstelten Lastern ihren Begierden nach. Sie waren Gewächse dieses glitschigen Pflasters des Markthallenviertels, wo selbst bei schönem Wetter der Schmutz schwarz und schmierig bleibt. Das sechzehnjährige Mädchen und der achtzehnjährige Bursche hatten sich die schöne Schamlosigkeit kleiner Kinder bewahrt, die an der Ecke der Prellsteine ihre Röcke hochheben. Immerhin sprossen in Cadine unruhevolle Träumereien, wenn sie auf den Bürgersteigen entlangging und die Stengel ihrer Veilchen wie Spindeln drehte. Und auch Marjolin spürte ein Unbehagen, das er nicht zu erklären vermochte. Manchmal ließ er die Kleine allein, entschlüpfte bei einem Umherschlendern, fehlte bei einer Schmauserei, um sich Frau Quenu durch die Schaufensterscheiben der Fleischerei ansehen zu gehen. Sie war so schön, so üppig, so rundlich, daß er seine Freude daran hatte. Bei ihrem Anblick empfand er ein Vollgefühl, als habe er etwas Gutes gegessen oder getrunken. Wenn er davonging, nahm er den Hunger und den Durst, sie wiederzusehen, mit sich. Das dauerte schon Monate. Zuerst hatte er sie mit den ehrerbietigen Blicken angesehen, die er auf die Auslagen der Kolonialwarenhändler und der Salzfischhändler warf. Als dann die Tage des großen Plünderns kamen, träumte er, wenn er sie sah, davon, seine Hände nach ihrer starken Taille, nach ihren üppigen Armen auszustrecken, so wie er sie in die Fässer mit Oliven und in die Kisten mit gedörrten Äpfeln versenkte.
Seit einiger Zeit sah Marjolin die schöne Lisa jeden Morgen. Sie ging an Gavards Laden vorüber, blieb einen Augenblick stehen und plauderte mit dem Geflügelhändler. Sie besorge ihre Einkäufe selbst, sagte sie, damit man sie weniger betrüge. Die Wahrheit war, daß sie Gavard zu vertraulichen Mitteilungen herausfordern wollte. In der Fleischerei war er mißtrauisch; in seinem Laden redete er hochtrabend daher und erzählte alles, was man wollte. Sie sagte sich, daß sie durch ihn herausbekommen würde, was bei Herrn Lebigre wirklich vorgehe, denn zu ihrer Geheimpolizei, zu Fräulein Saget, hatte sie kein allzu großes Vertrauen. So erfuhr sie von dem gräßlichen Schwätzer wirre Dinge, die sie sehr in Schrecken versetzten.
Zwei Tage nach der Aussprache, die sie mit Quenu gehabt hatte, kam sie leichenblaß vom Einkauf zurück. Sie winkte ihrem Mann, ihr in das Speisezimmer zu folgen. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, begann sie dort:
»Dein Bruder will uns also aufs Schafott bringen! – Warum hast du mir verheimlicht, was du weißt?«
Quenu schwor, daß er nichts wisse. Er legte einen feierlichen Eid ab, versicherte, daß er nicht mehr zu Herrn Lebigre gegangen sei und auch niemals mehr zu ihm gehen werde.
Sie zuckte die Achseln und fuhr fort:
»Du wirst gut daran tun, wenn du wenigstens nicht deine Haut dabei lassen willst … Florent ist an irgendeinem schlimmen Vorhaben beteiligt, das fühle ich. Ich habe soeben genügend erfahren, um zu erraten, wohin er geht … Er kommt ins Zuchthaus zurück, verstehst du?« Nach einem Schweigen sprach sie dann mit ruhiger Stimme weiter: »Der Unglückselige! – Er hatte es doch hier wie die Made im Speck, er konnte wieder ehrbar werden; nur gute Beispiele hatte er hier. Nein, das liegt im Blut; den Hals wird er sich mit seiner Politik brechen … Ich will, daß das aufhört, Quenu, verstehst du? Ich hatte dich gewarnt.« Sie legte unzweideutig Nachdruck auf diese letzten Worte.
Quenu senkte den Kopf und erwartete sein Urteil.
»Zunächst einmal«, sagte sie, »wird er nicht mehr hier essen. Es ist genug, wenn er hier schläft. Er verdient Geld, also kann er sich auch beköstigen.«
Quenu machte Anstalten, Einspruch zu erheben, aber sie schloß ihm den Mund, indem sie nachdrücklich hinzufügte:
»Also wähle zwischen ihm und uns. Ich schwöre dir, daß ich mit meiner Tochter davongehe, wenn er länger hier bleibt. Willst du, daß ich dir schließlich sage: Er ist ein Mensch, der zu allem fähig ist, der hierhergekommen ist, Unfrieden in unserer Ehe zu stiften. Aber ich werde da Ordnung schaffen; das versichere ich dir … Du hast verstanden: Er oder ich.« Sie ließ ihren Mann sprachlos stehen, ging in den Fleischerladen zurück, wo sie mit ihrem leutseligen Lächeln der schönen Fleischersfrau jemandem ein halbes Pfund Leberpastete verkaufte.
Gavard hatte sich in einer geschickt von ihr herbeigeführten politischen
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