Der Bauch von Paris - 3
Mittelalters vor. Schließlich warf er sich seine Radierung von der Rue Pirouette vor wie eine Schwäche. Die alten Buden solle man dem Erdboden gleichmachen und Modernes schaffen.
»Hier«, sagte er stehenbleibend, »sehen Sie an der Ecke des Bürgersteigs! Ist das nicht ein richtiges Gemälde, das menschlicher wäre als deren vermaledeite schwindsüchtige Malereien?«
Längs der überdachten Straße verkauften Frauen jetzt Kaffee und Suppe. An der Ecke des Bürgersteigs hatte sich um eine Händlerin, die Kohlsuppe ausschenkte, ein großer Kreis von Kunden gebildet. Der verzinnte Weißblecheimer mit Brühe dampfte auf einem kleinen, niedrigen Kohlenbecken, dessen Löcher einen fahlen Glutschein ausstrahlten. Die Frau war mit einem Schöpflöffel ausgerüstet, schwappte die Suppe in gelbe Tassen und entnahm einem mit Leinwand ausgeschlagenen Korb dünne Brotscheiben. Sehr reinliche Händlerinnen, Gemüsebauern in Kitteln, schmutzige Lastträger in Überziehern, die von den auf den Schultern herumgeschleppten Lebensmittelladungen speckig waren, zerlumpte arme Teufel, alle, die morgens Hunger hatten in den Markthallen, standen dort, aßen, verbrannten sich, streckten das Kinn ein wenig vor, um sich nichts vom Löffel auf die Kleidung tropfen zu lassen. Entzückt kniff der Maler die Augen zusammen und suchte den Blickpunkt, um das Gemälde auf eine gute Gesamtwirkung hin zu gliedern. Aber diese verteufelte Kohlsuppe verbreitete einen entsetzlichen Gestank. Belästigt durch die vollen Tassen, die die Essenden stillschweigend mit dem scheelen Blick mißtrauischer Tiere leerten, wandte Florent den Kopf ab. Claude selber wurde mürbe, als die Frau einen Neuangekommenen bediente und ihm der starke Dampf eines Löffels voll Suppe mitten ins Gesicht wehte.
Lächelnd und unwillig zog er seinen Gürtel enger; beim Weitergehen meinte er dann, auf das von Alexandre gespendete Glas Punsch anspielend, halblaut zu Florent:
»Das ist komisch. Es muß Ihnen auch schon aufgefallen sein? – Immer findet man jemand, der einem was zu trinken bezahlt, aber man begegnet niemand, der einem was zu essen bezahlt.«
Der Tag brach an. Am Ende der Rue de la Cossonnerie standen ganz schwarz die Häuser des Boulevard Sébastopol; und oberhalb der deutlichen Linie der Schieferdächer schnitt das hohe Bogengerüst der großen überdachten Straße einen Halbmond von Helligkeit aus dem fahlen Blau. Claude hatte sich über einige vergitterte Luken gebeugt, die sich in Höhe des Bürgersteigs über den Kellertiefen auftaten, in denen trübe Gaslichter brannten, und schaute jetzt zwischen den hohen Pfeilern hindurch in die Luft und suchte etwas auf den blau wirkenden Dächern am Rande des hellen Himmels. Schließlich blieb er abermals stehen, die Augen auf eine der dünnen eisernen Leitern gerichtet, die die beiden Dachgeschosse miteinander verbinden und den Zugang zu ihnen ermöglichen.
Florent fragte ihn, was er da oben sehe.
»Dieser verteufelte Marjolin«, sagte der Maler, ohne darauf zu antworten. »Sicher liegt er in irgendeiner Dachrinne, wenn er nicht gar die Nacht mit den Tieren im Geflügelkeller verbracht hat … Ich brauche ihn für eine Studie.« Und er erzählte, daß sein Freund Marjolin eines Morgens von einer Händlerin in einem Kohlhaufen gefunden worden und ungebunden auf der Straße aufgewachsen sei. Als man ihn in die Schule schicken wollte, wurde er krank; und man mußte ihn in die Markthallen zurückbringen. Er kannte ihre kleinsten Schlupfwinkel, liebte sie mit der Zärtlichkeit eines Sohnes, hauste mit der Behendigkeit eines Eichhörnchens inmitten dieses Eisenwaldes. Sie gaben ein hübsches Paar ab, er und dieses Frauenzimmer, die Cadine, die Mutter Chantemesse eines Abends an der Ecke des alten Marché des Innocents aufgelesen hatte. Er war prächtig, dieser große dumme Junge, goldbraun wie ein Rubens, mit einem rötlichen Bartflaum, in dem das Tageslicht hängenblieb; sie, die Kleine, war schmächtig und gerissen und hatte ein neckisches Frätzchen unter dem schwarzen Gestrüpp ihres Kraushaars.
Beim Sprechen beschleunigte Claude seine Schritte. Er brachte seinen Begleiter zur Pointe SaintEustache zurück, der sich hier in der Nähe des Omnibusbüros auf eine Bank fallen ließ und dem die Beine wieder wie zerschlagen waren. Die Luft wurde frischer. Hinten in der Rue Rambuteau war der milchige Himmel von rosigem Schein geädert und weiter oben von großen grauen Rissen zersäbelt. Von dieser Morgenröte ging ein so
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