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Der Bauch von Paris - 3

Der Bauch von Paris - 3

Titel: Der Bauch von Paris - 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Bratensäften, die einen zwingen, sich die Finger zu lecken. Er befürchtete zuerst, damit seinen Bruder zu ärgern, der wenig aß und von guten Dingen mit der Geringschätzung des Unwissenden sprach. Als er dann sah, wie ihm Florent zuhörte, wenn er ihm irgendein sehr kompliziertes Gericht erklärte, gestand er ihm seine Neigung und begann in einem großen Restaurant zu arbeiten. Von nun an war das Leben der beiden Brüder geregelt. Sie wohnten weiterhin in der großen Stube in der Rue RoyerCollard, wo sie sich an jedem Abend zusammenfanden, der eine mit von seinen Bratöfen erquicktem Gesicht, der andere mit dem vom Elend des schmutzbespritzten Lehrers geprägten Antlitz. Florent behielt seinen schwarzen Überrock an und vertiefte sich in die Hausaufgaben seiner Schüler, während Quenu, um es sich bequem zu machen, seine Schürze, seine weiße Jacke und seine weiße Küchenjungenmütze wieder vornahm, um den Ofen herumstrich und zu seinem Vergnügen irgendeinen Leckerbissen briet. Und manchmal lächelten sie, wenn sie sich so sahen, der eine ganz in Weiß, der andere ganz in Schwarz. Der große Raum schien zur Hälfte verdrießlich und zur Hälfte vergnügt über diese Betrübnis und diese Heiterkeit. Niemals hat sich ein ungleiches Paar besser verstanden. Der ältere mochte ruhig abmagern, verbrannt von den Begierden seines Vaters, der jüngere mochte als würdiger Sohn des Mannes aus der Normandie ruhig Fett ansetzen, sie liebten einander in ihrer gemeinsamen Mutter, in jener Frau, die nichts als zärtliche Liebe gewesen war.
    Sie hatten in Paris einen Verwandten, einen Bruder ihrer Mutter, einen gewissen Gradelle, der sich in der Gegend der Markthallen in der Rue Pirouette als Fleischer niedergelassen hatte. Er war ein grober Geizkragen, ein roher Kerl, der sie wie Hungerleider behandelte, als sie ihn zum ersten Mal aufsuchten. Sie kamen selten zu ihm. Zum Namenstag des guten Mannes brachte ihm Quenu einen Blumenstrauß und erhielt dafür ein Zehnsousstück. Florent fühlte sich in seinem krankhaften Stolz verletzt, wenn Gradelle mit dem unruhigen und argwöhnischen Blick eines Geizhalses, der eine Bitte um ein Mittagessen oder um hundert Sous wittert, seinen Überzieher musterte. Aber eines Tages hatte Florent, ohne sich etwas dabei zu denken, einen Hundertfrancsschein bei ihm gewechselt. Der Onkel bekam nun weniger Angst, wenn er die Kleinen, wie er sie nannte, kommen sah. Aber weiter ging die Freundschaft auch nicht.
    Diese Jahre waren für Florent ein langer süßer und trauriger Traum. Er kostete alle bitteren Freuden des Aufopferns aus. Zu Hause war nichts als zärtliche Liebe. Draußen, in den Demütigungen durch seine Schüler, in den Anrempeleien auf den Bürgersteigen, spürte er, wie er böse wurde. Sein getöteter Ehrgeiz verbitterte ihn. Langer Monate bedurfte es, bis er sich duckte und die Leiden eines häßlichen, mittelmäßigen und armseligen Menschen hinnahm. Um den Versuchungen, bösartig zu werden, zu entgehen, warf er sich auf ideale Güte; er schuf sich eine Zuflucht von unbedingter Gerechtigkeit und Wahrheit. Deshalb wurde er damals Republikaner; er fand zur Republik, wie verzweifelte Mädchen ins Kloster finden. Und da er keine Republik entdeckte, die lässig und still genug war, sein Leid einzuschläfern, schuf er sich eine. Die Bücher mißfielen ihm; all das geschwärzte Papier, in dem er lebte, erinnerte ihn an seine stinkende Klasse, an die Papierkugeln der Lausejungen, an die Marter der langen fruchtlosen Stunden. Außerdem erzählten ihm die Bücher nur von Auflehnung und trieben ihn zum Hochmut, während er das gebieterische Verlangen nach Vergessen und Frieden in sich spürte. Sich einwiegen, sich einlullen, träumen, daß er vollkommen glücklich sei, daß die Welt es bald werde, und das republikanische Gemeinwesen schaffen, in dem er hätte leben wollen – dies war seine Erholung, das Werk, das er ewig in seinen freien Stunden wiederaufnahm. Er las nichts mehr außer dem, was er für den Unterricht benötigte. Er ging die Rue SaintJacques bis zu den äußeren Boulevards hinauf, machte mitunter einen weiten Weg und kam über die Barrière d’Italie zurück; und während des ganzen Spaziergangs ruhten seine Augen auf dem Quartier Mouffetard, das sich zu seinen Füßen ausbreitete, und erwog er moralische Maßnahmen, humanitäre Gesetzesentwürfe, die diese Stadt des Leidens in eine Stadt der Glückseligkeit verwandelt hätten. Als die Februartage14 Paris mit Blut besudelten,

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