Der Bauch von Paris - 3
fünf Jahren mit einem vollen runden Gesicht und großer Ähnlichkeit mit der schönen Fleischersfrau. In den Armen hielt die Kleine einen riesigen gelben Kater, der es sich recht bequem machte und die Pfoten herunterhängen ließ; und mit ihren kleinen Händen, die sich unter der Last krümmten, drückte sie ihn an sich, als habe sie Angst, daß dieser so schlecht angezogene Herr ihn ihr wegnehme.
Langsam kam Lisa herbei.
»Das ist Florent, mein Bruder«, erklärte Quenu mehrmals. Sie redete ihn mit »Herr« an und war sehr freundlich. Ohne irgendwelche unhöfliche Verwunderung an den Tag zu legen, betrachtete sie ihn ruhig vom Kopf bis zu den Füßen. Nur ihre Lippen hatten eine kleine Falte. Sie blieb stehen und lächelte schließlich über die ungestümen Umarmungen ihres Mannes, der sich jedoch zu beruhigen schien. Da erst sah er, wie dürr und elend Florent war.
»Ach, mein armer Junge«, meinte er, »du bist nicht stattlicher geworden da drüben … Ich, ich bin dicker geworden, wie du siehst!«
Er war tatsächlich dick, zu dick für seine dreißig Jahre. Er quoll über in seinem Hemd, seiner Schürze und seinem weißen Leinenzeug, in dem er eingewickelt war wie ein riesiges pausbäckiges Kind. Sein glattrasiertes Gesicht hatte sich in die Länge gezogen und allmählich eine entfernte Ähnlichkeit mit jenen Schweineschnauzen und mit jenem Fleisch angenommen, worin sich seine Hände während des ganzen Tages versenkten und worin sie lebten. Florent erkannte ihn kaum wieder. Er hatte sich gesetzt, und seine Blicke wanderten von seinem Bruder zur schönen Lisa und zur kleinen Pauline. Sie strotzten vor Gesundheit; sie waren prächtig, breitschultrig und strahlend. Sie musterten ihn mit dem Erstaunen besonders wohlgenährter Leute, die beim Anblick eines Mageren eine unbestimmte Unruhe ergreift. Und sogar der Kater, dessen Fell vor Fett barst, machte runde gelbe Augen und musterte ihn mit argwöhnischer Miene.
»Du wartest doch bis zum Mittagessen, nicht wahr?« fragte Quenu. »Wir essen zeitig, um zehn Uhr.«
Ein kräftiger Küchengeruch hing im Raum. Florent erlebte noch einmal seine schreckliche Nacht, seine Ankunft in dem Gemüse, sein Ringen mit dem Tode mitten in den Markthallen, diese unaufhörlichen Nahrungslawinen, denen er eben entkommen war. Da sagte er leise, mit sanftem Lächeln:
»Nein, ich habe Hunger, weißt du.«
Kapitel II
Florent hatte gerade mit dem Jurastudium in Paris begonnen, als seine Mutter starb. Sie wohnte in Le Vigan im Departement12 Gard. In zweiter Ehe hatte sie einen Mann aus der Normandie, einen gewissen Quenu aus Yvetot, geheiratet, den ein Unterpräfekt13 mitgebracht und in Südfrankreich vergessen hatte. Er hatte seine Anstellung bei der Unterpräfektur behalten, fand das Land reizend, den Wein gut und die Frauen liebenswert. Drei Jahre nach seiner Heirat raffte ihn ein Magenleiden dahin. Als einzige Erbschaft hinterließ er seiner Frau einen kräftigen Jungen, der ihm ähnelte. Der Mutter fiel es schon sehr schwer, das Schulgeld für ihren Ältesten, für Florent, das Kind aus erster Ehe, aufzubringen. Er bereitete ihr große Freude: er war sehr sanft, arbeitete eifrig und bekam die besten Zensuren. All ihre Liebe, all ihre Hoffnungen setzte sie auf ihn. Vielleicht gab sie in diesem blassen und schmächtigen Jungen ihrem ersten Mann den Vorzug, einem jener Provenzalen von weichem, liebkosendem Wesen, der sie sterblich geliebt hatte. Vielleicht hatte sich Quenu, dessen Gutmütigkeit es ihr anfänglich angetan hatte, als zu träge, zu zufrieden herausgestellt, als zu überzeugt, seine besten Freuden aus sich selber zu holen. Es blieb für sie ausgemacht, daß aus ihrem letzten Sohn, dem jüngsten, den die Familien im Süden oft noch zum Priester bestimmen, niemals etwas Rechtes werden würde; sie begnügte sich damit, ihn zu einer alten Jungfer, ihrer Nachbarin, in die Schule zu schicken, wo der Kleine kaum etwas anderes lernte als sich herumzutreiben. Die beiden Brüder wuchsen also fern voneinander auf wie Fremde.
Als Florent in Le Vigan ankam, war seine Mutter bereits beerdigt. Sie hatte verlangt, daß man ihm ihre Krankheit bis zum letzten Augenblick verheimlichte, um ihn in seinem Studium nicht zu stören. Er fand den kleinen zwölf Jahre alten Quenu ganz allein mitten in der Küche vor, wo er auf einem Tisch saß und schluchzte. Ein Möbelhändler, ein Nachbar, berichtete ihm vom Todeskampf seiner unglücklichen Mutter. Sie hatte ihr Letztes hingegeben und
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