Der Bauch von Paris - 3
seinem Bruder, daß er es auf sich nehme, ihn Fett ansetzen zu lassen.
Der aber schüttelte leise den Kopf.
Inzwischen faltete Lisa das Blatt mit den Abrechnungen zusammen. Sie legte es in eine Schublade des Sekretärs.
»Sie handeln nicht richtig«, sagte sie wie abschließend. »Ich habe getan, was ich tun mußte. Soll es jetzt sein, wie Sie wünschen … Ich, sehen Sie, ich hätte nicht in Frieden leben können. Unangenehme Gedanken gehen mir auf die Nerven.«
Sie sprachen von etwas anderem. Die Anwesenheit Florents mußte geklärt werden, ohne die Polizei aufmerksam zu machen. Er ließ sie wissen, daß er mit Hilfe der Papiere eines armen Teufels nach Frankreich zurückgekehrt sei, der in Surinam18 am gelben Fieber in seinen Armen gestorben war. Durch einen sonderbaren Zufall hieß dieser Mann ebenfalls Florent, aber mit Vornamen. Florent Laquerrière hatte nur eine Kusine in Paris zurückgelassen, von der man ihm geschrieben hatte, daß sie in Amerika gestorben sei; nichts sei leichter, als dessen Rolle zu spielen. Lisa erbot sich von selbst, die Kusine zu sein. Sie kamen überein, eine Geschichte von dem Vetter zu erzählen, der nach allerhand gescheiterten Versuchen aus dem Ausland zurückgekehrt und von den QuenuGradelles, wie man die Familie in dem Viertel nannte, aufgenommen worden war, bis er eine Stellung finden könnte. Als das alles abgemacht war, wollte Quenu, daß sich sein Bruder die Wohnräume ansähe; er ersparte ihm nicht den kleinsten Schemel. In dem leeren Raum, in welchem nur Stühle standen, stieß Lisa eine Tür auf, zeigte ihm eine Kammer und sagte, daß dort das Ladenmädchen schlafen würde und er die Stube im fünften Stock behalten solle.
Am Abend war Florent vollständig neu eingekleidet. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, wieder einen schwarzen Überrock und eine schwarze Hose zu nehmen, trotz Quenus Ratschlägen, daß diese Farbe traurig stimme. Man hielt ihn nicht mehr verborgen, und Lisa erzählte die Geschichte von dem Vetter jedem, der sie hören wollte. Er lebte in der Fleischerei, saß weltvergessen auf einem Stuhl in der Küche, ging wieder in den Laden, um sich mit dem Rücken gegen die Marmortäfelung zu lehnen. Bei Tisch stopfte ihn Quenu mit Essen voll, wurde böse, weil Florent ein schwacher Esser war und die Hälfte von dem Fleisch, mit dem man ihm den Teller füllte, übrigließ. Lisa hatte wieder ihre langsame und selbstzufriedene Art angenommen; sie duldete ihn sogar morgens, wenn er beim Bedienen der Kundschaft störte. Sie vergaß ihn dabei, und wenn sie dann unvermutet auf ihn stieß und er schwarz vor ihr stand, fuhr sie leicht zusammen, fand aber dennoch ihr schönes Lächeln, um ihn nicht zu verletzen. Die Uneigennützigkeit dieses hageren Menschen hatte sie verblüfft; sie empfand für ihn eine Art Hochachtung, gemischt mit einer unbestimmten Angst. Florent fühlte nichts als eine große Zuneigung um sich her.
War es Zeit, schlafen zu gehen, so ging er ein wenig müde von seinem leeren Tageslauf nach oben mit den beiden Metzgerburschen, die die Mansarden neben seiner innehatten. Der Lehrling Léon war erst fünfzehn Jahre alt; er war ein schmächtiger, sehr sanft aussehender Junge. Er stibitzte den Anschnitt vom Schinken und liegengebliebene Wurstenden, die er unter seinem Kopfkissen verbarg und nachts ohne Brot aß. Mehrere Male glaubte Florent, Léon gebe gegen ein Uhr morgens nebenan ein Abendessen: verhaltene Stimmen flüsterten; dann drangen Kaugeräusche herüber, Knistern von Papier und perlendes Lachen, ein schelmisches Mädchenlachen, das in der großen Stille des im Schlaf liegenden Hauses dem gedämpften Triller einer Piccoloflöte glich. Der andere Bursche, Auguste Landois, war aus Troyes; trotz seiner ungesunden Fettleibigkeit, seinem zu großen und bereits kahlen Kopf war er erst achtundzwanzig Jahre alt. Am ersten Abend erzählte er Florent beim Hinaufgehen lang und verworren seine Geschichte. Er sei zuerst nur nach Paris gekommen, um sich zu vervollkommnen und dann zurückzukehren und in Troyes, wo seine leibliche Kusine Augustine Landois auf ihn wartete, eine Fleischerei zu eröffnen. Sie hatten denselben Paten gehabt und trugen den gleichen Vornamen. Dann hatte ihn der Ehrgeiz erfaßt. Er träumte davon, sich mit seinem mütterlichen Erbe, das er vor der Abreise aus der Champagne bei einem Notar hinterlegt hatte, in Paris selbständig zu machen. Im fünften Stock angekommen, hielt er Florent zurück und erzählte ihm viel Gutes über
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