Der Bauch von Paris - 3
Inzwischen wurde Pauline ärgerlich, stampfte mit den Füßen auf; sie wollte die Geschichte hören.
Da sie wirklich unerträglich wurde, sagte Lisa zu Florent:
»Nun, erzählen Sie ihr schon, was sie hören will, damit sie Ruhe gibt.«
Florent schwieg noch einen Augenblick. Er hielt die Augen auf den Fußboden gerichtet. Dann hob er langsam den Kopf, sah auf die beiden Frauen, die ihre Nadeln hin und herzogen, schaute auf Quenu und Auguste, die den Kochkessel für die Blutwurst zurechtmachten. Ruhig brannte das Gas; die Hitze des Herdes war sehr angenehm, und all das Fett der Küche glänzte im Wohlbehagen ausgiebiger Verdauung. Da setzte er die kleine Pauline auf eins seiner Knie und wandte sich mit einem traurigen Lächeln an das Kind:
»Es war einmal ein armer Mann. Den schickte man ganz weit, ganz weit fort, auf die andere Seite des Meeres … Auf dem Schiff, das ihn fortbrachte, waren vierhundert Sträflinge, unter die man ihn warf. Fünf Wochen mußte er mitten unter diesen Verbrechern leben, hatte wie sie einen Anzug aus Segeltuch an und aß aus ihrem Blechnapf. Große Läuse zerfleischten ihn; schreckliche Schweißausbrüche entkräfteten ihn. Die Küche, die Bäckerei, die Schiffsmaschinen erhitzten dermaßen die unteren Decks, daß zehn von den Sträflingen vor Hitze starben. Tagsüber ließ man sie, je fünfzig auf einmal, hinaufgehen und erlaubte ihnen, frische Meeresluft zu schöpfen; und da man aber vor ihnen Angst hatte, waren auf das schmale Oberdeck, wo sie spazierengingen, zwei Kanonen gerichtet. Der arme Mann war sehr froh, wenn die Reihe an ihn kam. Seine Schweißausbrüche ließen etwas nach. Er aß nichts mehr, er war sehr krank. Nachts, wenn man ihn wieder in Ketten gelegt hatte und ihn die stürmische See zwischen seinen beiden Nachbarn hin und her rollte, war er völlig verzagt; er weinte und war glücklich, daß ihn niemand weinen sah …«
Die Augen weit geöffnet und ihre Händchen andächtig gefaltet, lauschte Pauline.
»Aber«, unterbrach sie, »das ist doch gar nicht die Geschichte von dem Mann, den die Tiere aufgefressen haben … Das ist ja eine andere Geschichte, nicht wahr, Onkel?«
»Warte nur, du wirst gleich hören«, antwortete Florent sanft. »Zu der Geschichte von dem Mann komme ich noch … Ich erzähle dir jetzt die ganze Geschichte.«
»Na gut!« murmelte die Kleine glückstrahlend. Dennoch blieb sie nachdenklich, war sichtlich mit irgendeiner großen Schwierigkeit beschäftigt. Endlich entschloß sie sich zu fragen: »Was hatte der arme Mann denn gemacht, daß man ihn fortschickte und auf das Schiff brachte?«
Lisa und Augustine lächelten. Sie waren entzückt über die Aufgewecktheit des Kindes. Und ohne direkt zu antworten, nutzte Lisa die Gelegenheit aus, ihr Töchterchen zu ermahnen. Sie beeindruckte sie sehr, als sie ihr sagte, daß man auch die Kinder, die nicht artig sind, auf das Schiff bringe.
»Dann war es also ganz richtig«, bemerkte das Kind gescheit, »wenn der arme Mann vom Onkel nachts weinte.«
Lisa nahm die Näherei wieder auf und ließ ihre Schultern fallen. Quenu hatte nicht gehört. Er hatte soeben Zwiebelscheiben in den Kessel geschnitten, die auf dem Feuer die hellen und spitzen Stimmchen vor Wärme selig vergehender Grillen annahmen. Das roch sehr gut. Als Quenu seinen großen Holzlöffel hineintauchte, sang der Kessel noch stärker und erfüllte die Küche mit dem durchdringenden Geruch gebratener Zwiebeln. Auguste machte in einer Schüssel fetten Speck zurecht. Und Léons Hackmesser ging in heftigen Schlägen und schabte mitunter über den Tisch, um das Wurstfleisch zusammenzuscharren, das eine teigartige Masse zu werden begann.
»Als sie angekommen waren«, fuhr Florent fort, »brachte man den Mann auf eine Insel, die die Teufelsinsel heißt. Dort war er zusammen mit anderen Kameraden, die man auch aus ihrer Heimat fortgejagt hatte. Alle waren sehr unglücklich. Zuerst zwang man sie, wie Sträflinge zu arbeiten. Der Gendarm, der sie bewachte, zählte sie dreimal am Tage, um recht sicher zu sein, daß ihm niemand fehlte. Später ließ man sie tun, was sie wollten; nur für die Nacht wurden sie eingesperrt in einer großen Holzbaracke, wo sie in zwischen zwei Pfählen aufgespannten Hängematten schliefen. Nach einem Jahr gingen sie barfuß, und ihre Kleidung war so zerrissen, daß ihre Haut hervorsah. Aus Baumstämmen hatten sie sich Hütten gebaut, um sich gegen die Sonne zu schützen, deren Glut in jenem Lande alles verbrennt. Aber
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