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Der Bauch von Paris - 3

Der Bauch von Paris - 3

Titel: Der Bauch von Paris - 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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ganze Seite des Horizonts einnahmen. Zwei, die schwimmen konnten, entschlossen sich, diese Felsen zu erreichen. Sie wollten lieber Gefahr laufen, sofort zu ertrinken, als langsam auf ihrer Klippe Hungers zu sterben. Ihrem Gefährten versprachen sie, ihn holen zu kommen, sobald sie an Land gelangt seien und sich ein Boot besorgt hätten.«
    »Ah! Da! Jetzt weiß ich!« rief die kleine Pauline und klatschte vor Freude in die Hände. »Das ist die Geschichte von dem Mann, den die Tiere aufgefressen haben.«
    »Sie konnten die Küste erreichen«, fuhr Florent fort, »aber die Insel war unbewohnt, und erst am Ende des vierten Tages fanden sie ein Boot … Als sie zu der Klippe zurückkamen, sahen sie ihren Gefährten ausgestreckt auf dem Rücken liegen, Füße und Hände zerfleischt, das Gesicht angenagt, den Bauch voll wimmelnder Krabben, die an den Seiten die Haut bewegten, als ob ein gewaltiges Röcheln durch den halb aufgefressenen und noch frischen Leichnam hindurchging.«
    Lisa und Augustine konnten ein widerwilliges Murmeln nicht unterdrücken. Léon, der die Schweinedärme für die Blutwurst fertigmachte, schnitt eine Grimasse. Quenu hielt in seiner Arbeit inne und sah Auguste an, dem übel wurde. Und nur Pauline lachte. Dieser Bauch voll wimmelnder Krabben streckte sich seltsamerweise mitten in der Küche aus und mischte seinen üblen Geruch in den Speck und Zwiebelduft.
    »Geben Sie mir das Blut her!« rief Quenu, der übrigens der Geschichte nicht folgte.
    Auguste brachte die beiden Kannen, und langsam goß er in dünnen roten Strahlen das Blut in den Kessel, während Quenu es auffing und den dicker werdenden Brei wütend umrührte. Als die Kannen leer waren, langte er nach einem der Schubfächer über dem Herd und nahm fingerspitzenweise Gewürze. Vor allem pfefferte er stark.
    »Sie ließen ihn dort, nicht wahr?« fragte Lisa. »Und sind dann ungefährdet zurückgekommen?«
    »Als sie zurückfuhren«, antwortete Florent, »drehte sich der Wind, und sie wurden ins offene Meer hinausgetrieben. Eine Welle entriß ihnen ein Ruder, und bei jedem Windstoß schlug das Wasser so rasend ins Boot, daß sie nur damit zu tun hatten, das Boot mit den Händen leerzuschöpfen. So trieben sie im Angesicht der Küste hin und her, von einer Bö davongeführt, von der Flut wieder zurückgebracht, und da sie ihr bißchen Mundvorrat aufgegessen hatten, ohne einen Bissen Brot. Das dauerte drei Tage.«
    »Drei Tage!« rief die Fleischersfrau bestürzt. »Drei Tage, ohne zu essen!«
    »Ja, drei Tage, ohne zu essen. Als der Ostwind sie endlich an Land trieb, war der eine so geschwächt, daß er den ganzen Morgen über auf dem Sand liegenblieb. Am Abend starb er. Sein Gefährte hatte vergeblich versucht, ihn Blätter von den Bäumen kauen zu lassen.«
    An dieser Seile mußte Augustine leicht lachen; verwirrt, daß sie gelacht hatte und weil sie nicht wollte, daß man glaube, sie sei herzlos, stammelte sie dann:
    »Nein, nein, ich lache ja nicht darüber. Über Mouton lache ich … Sehen Sie sich doch Mouton an, Madame!«
    Lisa ihrerseits wurde heiter. Mouton, der immer noch die Schüssel mit dem Wurstfleisch unter der Nase hatte, war wahrscheinlich übel und angeekelt von all diesem Fleisch. Er hatte sich erhoben und kratzte mit der Pfote auf dem Tisch, wie um die Schüssel zu bedecken mit der Hast von Katzen, die ihren Unrat verscharren wollen. Dann wandte er der Schüssel den Rücken zu, legte sich auf die Seite, streckte sich aus, die Augen halb geschlossen, und rollte den Kopf in glückseligem Kosen. Nun lobten sie alle Mouton: man versicherte, er stehle niemals, man könne das Fleisch in seiner Reichweite stehenlassen. Pauline erzählte recht verworren, daß ihr der Kater nach dem Essen die Finger und das Gesicht ablecke, ohne sie zu beißen.
    Aber Lisa kehrte auf die Frage zurück, ob man drei Tage ohne Essen aushalten könne. Das sei doch nicht möglich.
    »Nein«, sagte sie, »das glaube ich nicht … Übrigens gibt es niemand, der drei Tage ohne Essen ausgehalten hätte. Und wenn es heißt, der oder der krepiert vor Hunger, so ist das eine Redensart. Mehr oder weniger ißt man immer … Das müßten ja erbärmliche, ganz verkommene, verlorene Leute sein …«
    Sie wollte zweifellos »hergelaufenes Lumpenpack« sagen, aber sie hielt sich zurück, als sie Florent ansah. Und das verächtliche Verzerren ihrer Lippen und ihr klarer Blick gaben rundweg zu, daß allein Strolche so unmäßig fasten könnten. Ein Mensch, der imstande

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