Der Bauch von Paris - 3
Alle nannten ihn so. Überall war er zu finden: hinten in den Versteigerungslokalen, in den Haufen von Deckelkörben, zwischen den Abfalleimern. Er tummelte sich da wie eine junge Barbe von rosigem Weiß, die wieder ins offene Wasser gelassen ist und nun zappelt und sich überschlägt. Rieselndes Wasser liebte er wie ein Fischlein. Er kroch in den Pfützen der Gänge herum und bekam ab, was von den Tischen tropfte. Oft öffnete er verstohlen einen Wasserhahn und freute sich über das Spritzen des Strahls. Aber vor allem bei den Wasserleitungen oberhalb der Kellertreppe mußte ihn seine Mutter abends holen gehen; durchnäßt, mit blauen Händen und Wasser in den Schuhen und sogar in den Taschen, brachte sie ihn von dort zurück.
Mit sieben Jahren war Murx ein kleiner gutmütiger Kerl, hübsch wie ein Engel und grob wie ein Rollkutscher. Er hatte krauses, kastanienbraunes Haar, schöne, zärtliche Augen und einen reinen Mund, der fluchte und Schimpfworte sagte, die einem Gendarmen die Kehle zerkratzt hätten. Aufgewachsen im Dreck der Markthallen, buchstabierte er den Fischweiberkatechismus, stemmte eine Faust in die Hüfte und ahmte Mama Méhudin nach, wenn sie wütend war. Ausdrücke wie »Schlampen«, »Nutten«, »Geh dir doch von deinem Kerl einen reinrotzen lassen«, »Wieviel zahlt man dir denn für deine Hülse?« gingen ein in seine kristallene Chorknabenstimme. Dabei bemühte er sich, schnarrend zu sprechen, und zog so seine Kindlichkeit in die Gosse, die erlesene Kindlichkeit eines Jesuskindes, das auf den Knien einer Madonna lächelt. Die Fischweiber lachten Tränen. Dadurch ermuntert, brachte er keine zwei Worte mehr an, ohne ein »Himmeldonnerwetter« an den Schluß zu setzen. Aber er blieb liebenswert, weil er nichts von diesen Schmutzigkeiten kannte, gesund gehalten war von dem frischen Hauch und dem starken Seefischgeruch und seinen Rosenkranz anstößiger Schimpfworte mit so verzückter Miene hersagte, als spräche er seine Gebete.
Der Winter kam, und Murx fröstelte in diesem Jahr. Kaum hatte die Kälte eingesetzt, ergriff ihn eine lebhafte Neugier für das Bureau des Aufsehers. Florents Bureau befand sich im linken Mauerwinkel der Halle auf der Seite der Rue Rambuteau. Es war eingerichtet mit einem Tisch, einem Regal, einem Sessel, zwei Stühlen und einem Ofen. Dieser Ofen war der Traum des kleinen Murx. Florent war in Kinder vernarrt. Als er den Kleinen mit seinen nassen Füßen erblickte, wie er durch die Scheiben sah, ließ er ihn hereinkommen. Das erste Gespräch mit Murx versetzte ihn in tiefes Erstaunen.
Er hatte sich an den Ofen gesetzt und sagte mit seiner ruhigen Stimme: »Ich möchte mir mal ein bißchen die Stelzen rösten. Verstehst du … Es ist eine gottserbärmliche Kälte.« Dann fügte er mit perlendem Lachen hinzu: »Meine Tante Claire sieht heute früh wie eine alte Schickse aus … Sag mal, Onkel, stimmt es, daß du ihr nachts die Füße wärmen gehst?«
Florent war entgeistert und faßte eine seltsame Teilnahme für den Straßenjungen. Die schöne Normande blieb nach wie vor verkniffen, ließ jedoch ihr Kind zu ihm gehen, ohne ein Wort zu sagen. So glaubte er sich befugt, ihn einzulassen; nachmittags ließ er ihn zu sich kommen, weil er allmählich auf den Gedanken gekommen war, aus ihm einen kleinen, recht vernünftigen, gutmütigen Kerl zu machen. Es schien ihm, als sei sein Bruder Quenu wieder klein geworden, als hausten sie noch alle beide in der großen Stube in der Rue RoyerCollard. Seine Freude, sein geheimer Traum von Aufopferung, war, ständig mit einem jungen Wesen zusammen zu leben, das nicht heranwachsen würde, das er unaufhörlich bilden und in dessen Unschuld er die Menschen lieben könnte. Vom dritten Tag an brachte er eine Fibel mit. Murx entzückte ihn mit seiner Auffassungsgabe. Die Buchstaben lernte er mit dem pariserischen Schwung eines Straßenkindes. Die Bilder der Fibel ergötzten ihn ungemein. Dann veranstaltete er in dem engen Bureau fürchterliche Schulpausen. Der Ofen blieb sein großer Freund, ein Gegenstand unendlichen Vergnügens. Anfangs röstete er darauf Kartoffeln und Kastanien; aber das kam ihm reizlos vor. Da stahl er seiner Tante Claire Gründlinge, die er einen nach dem anderen am Ende eines Fadens vor der glühenden Öffnung röstete und ohne Brot mit Wonne verspeiste. Eines Tages brachte er sogar einen Karpfen mit; der wollte durchaus nicht gar werden und verpestete das Bureau so sehr, daß Fenster und Tür geöffnet werden mußten.
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