Der Baum des Lebens
ihr nichts unternehmen, um die Leute zu beruhigen?«
»Ich spreche noch heute mit unserem Oberpriester darüber.«
Da sie dem Kahlen ohnehin eine Abschrift ihrer Worte bringen musste, damit er sie in seinem Archiv verwahrte, bat sie ihn um Hilfe.
»Diese Baustelle macht auch mir große Sorgen«, gestand er. »Ich glaube, es wäre am besten, wir würden noch einmal den Ritus mit dem roten Bändchen vollziehen, das die schlechten Kräfte gefangen nimmt.«
»Und wenn das nichts nützt?«
»Wir haben noch andere Mittel in der Hinterhand, und wir kämpfen bis zum Schluss. Begleite mich zur Akazie.«
Er trug die Schale mit Wasser, sie jene mit Milch. Nacheinander gossen sie behutsam die Flüssigkeit an den Stamm des kranken Baums. Der einzige Ast, der wieder begrünt war, schien gesund zu sein, aber der ehemals heitere Ort verströmte tiefe Traurigkeit.
»Wir müssen unsere Nachforschungen verstärken«, empfahl der Kahle. »Komm morgen zu mir in die Bibliothek. Wenn wir die alten Schriften durchforsten, entdecken wir vielleicht nützliche Hinweise.«
Die Priesterin freute sich über diesen Auftrag, der sie ablenken würde. Aber kaum war sie zurück in den Wohnräumen der Frauen, als sie auch schon wieder die gleiche Unruhe bedrängte.
»Die Königin wünscht dich zu sehen«, sagte eine ihrer Mitschwestern.
Die Königin und die junge Priesterin gingen über den von Kapellen und Stelen gesäumten Weg, die Osiris gewidmet waren.
»Worunter leidest du?«
»Ich bin nicht krank, Majestät. Nur ein bisschen müde und…«
»Mir kannst du nichts vormachen. Welche Frage quält dich?«
»Ich frage mich, ob ich stark genug bin, diesen Weg weiterzugehen.«
»Ist das denn nicht dein größter Wunsch?«
»Doch, Majestät, aber meine Schwächen sind so groß, dass sie mir wirklich im Weg stehen könnten.«
»Diese Schwächen gehören zu den Hindernissen, die überwunden werden wollen.«
»Bedeutet denn nicht alles, was mich vom Tempel entfernt, Gefahr?«
»Unsere Regel zwingt dich nicht, in Klausur zu leben. Die meisten Priester und Priesterinnen sind verheiratet, manche wählen allerdings das Alleinsein.«
»Wäre denn die Heirat mit einem Mann, der nicht im Tempel lebt, kein Irrweg?«
»Dafür gibt es keine eindeutigen Gesetze. Du musst dich für das entscheiden, was das Feuer der Erkenntnis nährt, und meiden, was es erstickt. Vor allem darfst du dich nie selbst betrügen oder versuchen, dich zu belügen. Sonst verlierst du dich in einer endlosen Wüste, und die Tür zum Tempel verschließt sich dir.«
Als die Königin Abydos verlassen hatte, musste die Priesterin wieder an den jungen Mann denken, dem sie nur für einen kurzen Augenblick begegnet war und den sie wahrscheinlich nie wieder treffen würde. Er war ihr aber alles andere als gleichgültig und hatte ein seltsames Gefühl in ihr geweckt, das ganz allmählich immer stärker wurde. Sie hätte ja nicht an ihn denken müssen, aber es gelang ihr nicht mehr, ihn aus ihren Gedanken zu verjagen. Wer weiß, vielleicht würde das Gesicht des jungen Mannes ja mit der Zeit in ihrer Erinnerung verblassen?
Als Gergu in Abydos eintraf, musste er feststellen, dass die strenge Überwachung nicht gelockert worden war. Mehrere Soldaten kamen an Bord seines Schiffs, wollten seinen Auftrag sehen und untersuchten die Schiffsladung äußerst sorgfältig.
»Salben, Leintücher und Sandalen: Das ist alles für die ständigen Priester bestimmt«, erklärte ihnen Gergu. »Hier ist eine genaue Aufstellung, die das Siegel des Großen Schatzmeisters Senânkh trägt.«
»Wir müssen überprüfen, ob die Ladung mit dieser Liste übereinstimmt«, sagte ein Offizier kurz angebunden.
»Habt Ihr etwa kein Vertrauen in den Großen Schatzmeister und seinen Stellvertreter?«
»Vorschrift ist Vorschrift.«
Über diese Anlegestelle kann ich jedenfalls nichts einschmuggeln, dachte sich Gergu, und es sind viel zu viele Soldaten und Wachleute hier, als dass man sie alle bestechen könnte.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Untersuchung geduldig über sich ergehen zu lassen.
»Brecht Ihr gleich wieder auf?«, wollte der Offizier wissen.
»Nein, ich muss einen Priester treffen und ihm diese Liste geben, weil ich wissen will, ob er damit zufrieden ist oder gegebenenfalls neue Aufträge für mich hat.«
»Wartet hier am Wachposten. Ihr werdet abgeholt.«
Auch diesmal sollte Gergu Abydos nicht erforschen. Von zwei Gefängniswärtern bewacht, mit denen er gar nicht
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