Der Baum des Lebens
schon Familienvater?«
»Nein, aber ich würde gern dieses Schiff verschenken.«
»Das ist das einzige Stück, das ich nicht selbst angefertigt habe, und es ist auch mein teuerstes. Ein kleines Meisterwerk!«
»Wer hat es gemacht?«
»Ein Schreiner im Ruhestand. Der beste aus Kahun, sagen seine Kollegen. Er wird Hobel genannt, weil er sich so eins ist mit seinem Werkzeug.«
»Wenn er noch hier wohnt, würde ich ihn gern zu seiner Arbeit beglückwünschen.«
»Das sollte nicht schwer sein, er wohnt in einem kleinen Haus im westlichen Stadtviertel.« Der Spielzeugbauer erklärte Iker genau, wie er ihn finden konnte.
»Wie möchtest du bezahlt werden: in Naturalien oder in Arbeitszeit? Ich bin Schreiber und kann dir jedes beliebige Schriftstück anfertigen.«
»Das trifft sich gut: Ich müsste sowieso gerade an meine Verwandten schreiben, die im Nildelta leben. Wären zehn Briefe in Ordnung?«
»Das Schiff ist so gelungen, dass ich dir zwölf schreibe.«
Ein Dienstmädchen fegte gerade schwungvoll den Hauseingang, als Iker kam.
»Kann ich Hobel sehen?«, fragte Iker.
»Hobel ist krank.«
»Es ist sehr wichtig.«
»Du willst ihm doch hoffentlich keinen Ärger machen?«
»Ich bin Schreiber und möchte ihn zu seinem großen Handwerksgeschick beglückwünschen.«
Die Dienerin zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen, aber zieh deine Sandalen aus, wasch dir die Füße, trockne sie ab und mach keinen Dreck. Ich habe nämlich keine Lust, hier zweimal am Tag sauber zu machen.«
Iker hielt sich an die Anweisungen und betrat dann die Wohnung, deren erstes Zimmer dem Ahnenkult vorbehalten war. Hobel hielt sich im zweiten Zimmer auf, das wie eine Werkstatt aussah, mit Holzstücken, Werkzeug und einer Werkbank. Aber der alte Mann arbeitete nicht mehr. Mit struppigem Haar, krummem Rücken und einem geschwollenen Bauch saß er in einem hochlehnigen Stuhl und hielt einen Gehstock in der Hand, auf dessen Knauf er sein Kinn stützte. Er starrte unverwandt eine Säge und ein Dachsbeil mit kurzem Griff an, die zum Hobeln von Brettern unerlässlich waren.
»Ich bin der Schreiber Iker und möchte mit Euch sprechen.«
»Es ist besser, man vergisst die Vergangenheit, mein Junge. Ich war einer der rührigsten und unermüdlichsten Handwerker auf den Baustellen, schau dir an, was aus mir geworden ist! Ich traue mich nicht einmal mehr aus dem Haus. Das Alter ist eine schlimme Strafe.«
»Baut Ihr noch weitere Stücke wie dieses Schiff?«
Hobel warf einen zerstreuten Blick darauf. »Das da, ach, das ist Zeitvertreib für einen alten Krüppel. Ich schäme mich fast dafür.«
»Warum denn, das Schiff ist großartig!«
»Wo hast du es entdeckt?«
»Bei dem Spielwarenhändler.«
»Etwas anderes kann ich nicht mehr machen. Mein Ruhegeld reicht mir zum Leben, aber weder mein Kopf noch meine Hände kommen mit diesem körperlichen Verfall zurecht.«
»Habt Ihr einmal auf einer Werft gearbeitet?«, wollte Iker wissen.
Die Frage schien den Alten zu verärgern. »Was fällt dir denn ein? Das ist für jeden anständigen Schreiner Pflicht!«
»Dann habt Ihr also an vielen Schiffen mitgebaut?«
»An großen und kleinen, an Lastkähnen… Wenn es Schwierigkeiten gab, die unüberwindlich schienen, hat man immer mich geholt.«
Iker zeigte ihm noch einmal das kleine Schiff. »Habt Ihr dieses Stück einem richtigen Schiff nachempfunden, an dessen Entstehung Ihr beteiligt wart?«
Hobel betastete das Spielzeug. »Natürlich! Es war ein großartiges Schiff, und fürs Meer bestimmt – nicht nur für den Nil. Es war so gut gebaut, dass es einige Stürme aushalten konnte.«
»Könnt Ihr Euch noch an seinen Namen erinnern?«
»Es hieß Gefährte des Windes.«
Iker versuchte sich zu beherrschen, aber insgeheim freute er sich sehr. Endlich hatte er eine vielversprechende Spur entdeckt!
»Es hieß Gefährte des Windes und war der letzte große Auftrag, an dem ich gearbeitet habe.«
»Habt Ihr den Kapitän und die Mannschaft kennen gelernt?«
Der Alte schüttelte den Kopf.
»Wisst Ihr vielleicht, wie sie hießen?«
»Nein, darum habe ich mich nicht gekümmert. Ich wollte nur einen Rumpf bauen, der jeder Prüfung standhalten würde.«
»Wisst Ihr, was aus dem Schiff geworden ist?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Hat man Euch erzählt, wohin seine Fahrt gehen sollte, nämlich in das Land Punt?«
»Dieses Land gibt es nur in der Vorstellungswelt der Geschichtenerzähler, mein Junge! Auch die Gefährte des Windes hätte es nicht
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