Der Baum des Lebens
du ihnen zu deinem Unglück über den Weg laufen solltest, werden sie dich töten. Und es gibt so viele schöne Frauen!«
Plötzlich erstarrte der Schreiberlehrling und zwang Sekari, sich zu ducken.
»Da sind Männer mit Pfeil und Bogen und Hunden… Sie kommen auf uns zu.«
»Das sind bestimmt Jäger.«
Die Gazelle hatte die drohende Gefahr noch nicht gewittert und ließ sich das frische Gras schmecken.
Iker stand auf und fuchtelte wie wild mit den Armen.
»Lauf weg, schnell, lauf weg!«, rief er ihr zu.
Kaum hatte sich das Tier davongemacht, als man auch schon das Gekläff der Hunde hörte.
Ein Pfeil pfiff an Iker vorbei, und eine Stimme bellte: »Rührt euch nicht vom Fleck oder ich schieße!« Der Bogenschütze ging in Position und schien nicht zu scherzen.
Kurz darauf erschienen andere Männer und eine ziemlich unruhige Hundemeute. Sekari hatte nicht einmal versucht zu fliehen.
»Wir sind anständige Leute!«, mahnte er.
»Wahrscheinlich eher Sandläufer, die unser Wild jagen«, meinte ein unrasierter Offizier mit einem Oberkörper voller Narben, die vom Kampf mit einem widerspenstigen Raubtier zeugten. »Im Gazellengau (das ist die sechzehnte Provinz von Oberägypten mit der bekannten archäologischen Fundstelle Beni Hassan) ist das ein schweres Vergehen, das streng bestraft wird. Da ihr uns angegriffen habt, mussten wir schießen. Erlaubte Selbstverteidigung. Aber ich will euch eine kleine Chance geben: Lauft so schnell ihr könnt. Vielleicht verfehlen wir euch ja.«
»Wir laufen überhaupt nicht«, entgegnete Iker. »Wir sind eben erst einer Horde von Mördern entkommen, die das Reich der Türkise verwüstet haben, und hätten nicht gedacht, dass wir gleich darauf noch grausameren Barbaren in die Hände fallen würden.«
Die Jäger machten verlegene Gesichter.
»Wir sind doch keine Barbaren«, widersprach einer von ihnen. »Wir gehören zum Ordnungstrupp der Wüste und dienen dem Fürsten der Provinz, Chnum-Hotep. Wir sichern die Karawanenstraßen und bringen dem Fürsten Wild. Und wer seid ihr?«
»Ich heiße Iker und bin Schreiberlehrling. Das hier ist mein Freund, der Gärtner Sekari.«
»Dummes Geschwätz!«, schnitt ihm der Offizier das Wort ab. »Ihr seid Diebe und Spitzel. Wenn ihr nicht laufen wollt, bringe ich euch eben hier und jetzt um.«
»Dann werden Euch Eure Untergebenen ein Verbrechen zum Vorwurf machen.«
Der Offizier wollte den Dolch aus der Scheide ziehen, aber einer seiner Männer hielt ihn zurück.
»Ihr habt kein Recht, so zu handeln. Nur der Provinzfürst kann darüber entscheiden. Wir haben weiter nichts zu tun, als ihm diese beiden Verdächtigen vorzuführen.«
Als die vier Träger endlich den Sessel mit der hohen, verstellbaren Rückenlehne abstellen konnten, auf dem Chnum-Hotep saß, stöhnten sie erleichtert auf. Der Fürst des reichen Gazellengaus war korpulent, muskulös, bekannt als großer Esser und dementsprechend schwer. Nachdem er über drei Sessel verfügte, die seitlich mit Lotosblumen verziert waren, und ständig anderswohin wollte, war es kein Zuckerschlecken, für ihn als Träger zu arbeiten.
Sobald er aufstand, stürzten sich seine drei Jagdhunde auf ihn – ein sehr lebhaftes Männchen und zwei rundliche Weibchen.
»Ja, ja, ich weiß, meine Lieben, wir haben uns den ganzen Vormittag nicht gesehen!«
Das Männchen stellte sich auf die Hinterbeine und legte seinem Herrn die Vorderpfoten auf die Schulter. Die Weibchen kläfften eifersüchtig. Damit sie sich beruhigten, wurden sie ausgiebig gestreichelt.
»Haben sie ordentliches Futter bekommen?«, fragte Chnum-Hotep seinen Schirmträger.
»Aber ja, mein Herr!«
»Ich hoffe, du lügst mich nicht an?«
»Nein, natürlich nicht! Sie haben übrigens alles aufgefressen.«
»Heute Abend bekommen sie Hase mit Sauce – wie ich. Wer seine Hunde nicht verwöhnt, beleidigt die Götter!«
Die Hunde verstanden den Ausdruck »Hase in Sauce« sehr gut und leckten sich in Erwartung dieses Festmahls die Lefzen. Darauf folgten sie ihrem Herrn in den prachtvollen Palast seiner Hauptstadt (Menat-Chufu, Cheops’ Amme), dem Geburtsort von Cheops, dem Erbauer der größten Pyramide auf der Ebene von Gizeh.
Nachdem er eines der reichen landwirtschaftlichen Güter besichtigt hatte, auf denen die Bauern zwar hart arbeiten mussten, aber auch stattliche Ernten einbrachten, wollte es sich Chnum-Hotep in seinem Lehnstuhl bequem machen. Dieser bestand aus zwei stabilen Holzplatten, die am Sitz befestigt waren, und trug
Weitere Kostenlose Bücher