Der Baum des Lebens
klammerte sich noch fester an seine Armlehnen.
»Wer könnte mir befehlen, deine Fragen zu beantworten?«
»Eure Wahrheitsliebe.«
»Und wenn diese Wahrheit, die du erfahren willst, gefährlicher wäre als die Unwissenheit?«
»Ich hätte dafür beinahe mein Leben verloren, und ich will wissen, wer und warum er das getan hat.«
»Möchtest du diese schrecklichen Ereignisse nicht lieber vergessen, ein ruhiges Dasein führen und deiner Leidenschaft für Lesen und Schreiben frönen?«
»Leben, ohne zu verstehen, in der Finsternis leben – ist das nicht die schlimmste aller Strafen?«
»Das kommt ganz auf den einzelnen Menschen an, mein Junge. Die meisten genießen die Unwissenheit.«
»Auf mich trifft das aber nicht zu.«
»Den Eindruck habe ich auch! Zum letzten Mal, Iker, versuche nicht zu entdecken, was verborgen bleiben soll.«
Nun wusste Iker endgültig, dass er mit seiner Vermutung Recht hatte. Er blickte Djehuti unnachgiebig an, bis auch dessen letzter Rest von Widerstand abbröckelte.
»Wie du willst, mein Junge, aber es könnte sein, dass du diese Entscheidung einmal bereuen wirst. Was das Land Punt angeht, kann ich dir keine Hinweise liefern. Dafür habe ich von zwei Seeleuten namens Schildkröten-Auge und Messerklinge gehört.«
Iker fuhr hoch. »Habt Ihr sie eingestellt?«
»Nein, sie waren lediglich eine Zeit lang im größten Hafen meiner Provinz. Ihr Schiff lag dort ein paar Tage vor Anker.«
»In den Archiven findet sich aber kein Vermerk zu diesem Aufenthalt!«, sagte Iker empört.
»Das Schriftstück wurde vernichtet.«
»Warum denn das, Herr?«
»Um Hirngespinsten vorzubeugen.«
»Hirngespinsten? Welchen denn, bitte? Vielleicht der, dass Ihr der Urheber dieser Machenschaften seid?«
»Jetzt reicht es aber!«, donnerte Djehuti. »Verstehst du nicht, dass ich dich beschützen will? Für mich war es unerträglich, mit ansehen zu müssen, wie du dir den Schädel an deinem eigenen Schicksal einrennst.«
»Ihr müsst mir alles sagen, Herr.«
»Du weißt überhaupt nicht, was das nach sich ziehen könnte.«
»Dank Euch werde ich es gleich erfahren.«
Djehuti seufzte abermals auf. »Diese beiden Seeleute gehörten zu einer Schiffsbesatzung mit besonderen Vorrechten. Willst du wirklich mehr darüber erfahren?«
»Muss ich Euch denn jedes Wort einzeln herausziehen?«
»Ich stand nicht auf der Seite von Sesostris. Dieses Schiff aber segelte unter dem besonderen Schutz des königlichen Siegels, und der Kapitän bat mich um die Erlaubnis für einen kurzen Aufenthalt in meinem Hafen, um seine Vorräte zu ergänzen. Hätte ich ihm diese Bitte abgeschlagen, wäre es zu einer Auseinandersetzung gekommen. Indem ich einwilligte, machte ich mich zum Untergebenen eines Monarchen, dessen Oberhoheit ich verabscheute. Deshalb beschloss ich, dass es dieses Schiff und seine Mannschaft nie gegeben hat. Dann kamst du mit deinen vielen Fragen und deiner außerordentlichen Hartnäckigkeit. Du bist ganz anders als die anderen Schreiber, Iker. In dir brennt ein Feuer, dessen Wesen du noch nicht begreifst. Deshalb habe ich versucht, dich deiner Vergangenheit zu entreißen.«
»Wohin sind diese Seeleute gefahren?«
»Sie fuhren nach Kahun, eine Stadt, der Sesostris’ besonderes Augenmerk gilt. Dort befinden sich die Reichsarchive.«
»Wenn ich in die Reichsarchive könnte, würde ich die Antworten auf meine Fragen finden!«
»Das wäre eine Herausforderung an den Pharao.«
»Warum wollte er mich töten lassen?«
»Das weiß ich nicht, mein Junge, aber ich weiß sehr wohl, dass niemand einen Pharao angreift, ohne ins Verderben zu laufen.«
»Die Wahrheit ist mir wichtiger als mein Leben. Helft mir noch einmal und schickt mich nach Kahun. Ein Schreiber, der aus der Provinz von Thot kommt, wird in jeder Stadt Ägyptens gut aufgenommen.«
»Du willst, dass ich dich in den Tod schicke, Iker.«
»Meine Dankbarkeit für Euch ist grenzenlos. Bliebe ich aber länger hier und müsste Augen und Ohren verschließen, würde ich bald ein schlechter Diener.«
»Du legst eine schwere Verantwortung auf meine Schultern.«
»Verantwortlich bin nur ich allein. Ich habe Euch dazu gebracht, den Schleier zu lüften und mich meinen Weg gehen zu lassen. Dank Euch fühle ich mich gestärkt und in der Lage, mich dieser neuen Prüfung zu stellen.«
44
Auf der Insel Elephantine nahmen Sesostris und sein Hofstaat an einer Zeremonie teil, die der Fürst der Provinz, Sarenput, zu Ehren eines von allen verehrten
Weitere Kostenlose Bücher