Der Bedrohung so nah (German Edition)
ihre Sicht verschwamm. Noch immer bei Bewusstsein, hörte sie wie durch einen Schleicher das Heulen von Sirenen in der Ferne. Wütende Rufe. Schritte auf dem Betonboden.
Zwanzig Meter weiter der regungslose Körper ihres Partners.
Wut und Unglauben mischten sich mit Trauer, während ein brutaler Schmerz ihren Körper durchzuckte. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Gefühl der Schuld, das ihr Herz in tausend Stücke riss.
Bitte lieber Gott, lass ihn nicht sterben .
Als die Dunkelheit sich um sie schloss, betete sie still, dass ihr Partner überleben und ihr eines Tage verzeihen würde. Und dass sie eines Tages in der Lage sein würde, sich selbst zu verzeihen. Dann verlor sie das Bewusstsein.
1. KAPITEL
Erin McNeal fuhr mit ihrem Auto auf den Parkplatz der Polizeistation von Logan Falls, Indiana, und starrte das zweigeschossige Backsteingebäude an. Sie spürte die Angst in sich aufziehen wie ein plötzlich nahendes Unwetter.
„Du schaffst das“, sprach sie sich laut Mut zu und zwang sich, die Finger vom Lenkrad zu lösen, das sie fest umklammert hielt. Doch die Worte halfen weder gegen das Herzklopfen noch gegen das erstickende Gefühl der Enge in ihrer Brust.
Es war unglaublich, wie nervös sie war. Beinah hätte sie laut aufgelacht. In ihrer neunjährigen Dienstzeit als Polizistin hatte sie es mit einigen der gefährlichsten Verbrecher Chicagos aufgenommen. Und nun gingen ihr die Nerven durch, weil sie ein Bewerbungsgespräch bei dem Polizeichef einer Stadt hatte, die gerade einmal halb so groß war wie ihr ehemaliges Revier.
Doch das gehört der Vergangenheit an, dachte sie finster. Sie war nicht mehr bei der Polizei von Chicago. Sie war nicht mehr die einzige Frau dort, die sich in neun Jahren von einer Streifenpolizistin über Zivilfahnderin zum Detective in der Abteilung für Drogenkriminalität hochgearbeitet hatte.
Tatsache war, dass Erin arbeitslos war. Und mit der ramponierten Schulter, ihrem ruinierten Ruf und einem Sack voll persönlicher Probleme war der Deputy-Posten in Logan Falls das Beste, worauf sie hoffen konnte. Kleinstadt hin oder her, sie musste einen guten Eindruck machen.
Die Nerven bis aufs Äußerste gereizt, stieg sie aus dem Auto und ging zum Eingang der Polizeiwache. Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter, umfasste die Bewerbungsmappe fest, hob das Kinn und atmete zweimal tief ein. Doch es half nichts. Nur mit Mühe konnte sie den Drang unterdrücken, in nervöses Gelächter auszubrechen. Als sie vor sechs Monaten durch die Tür einer verlassenen Lagerhalle, in der sich ein bewaffneter Verdächtiger verschanzt hatte, gestürmt war, hatte sie nicht annähernd so viel Angst gehabt wie heute. Aber damals war sie ein Adrenalinjunkie gewesen und hatte gewusst, dass sie gut in ihrem Job war. Jetzt war ihr Selbstvertrauen am Boden und ihre Karriere im Eimer. Sie hatte Glück, wenn sie diese Angelegenheit überstand, ohne auch noch ihre Selbstachtung zu verlieren.
Sie zwang sich, die Vergangenheit ruhen zu lassen, setzte ihr bestes Cop-Gesicht auf und ging zur Tür. Sie konnte nur hoffen, dass der Mann dahinter nicht allzu hohe Ansprüche hatte.
Grübelnd ging Polizeichef Nick Ryan den Lebenslauf durch. Auf dem Papier war die Karriere von Exdetective Erin McNeal tadellos. Zwei Empfehlungen aus den jeweiligen Abteilungen, eine Tapferkeitsauszeichnung, einen Blue Star für eine schwere Verletzung im Dienst. Commander Frank Rossi, ein alter Freund aus Polizeischultagen, dem er einen Gefallen schuldete, hatte sie empfohlen.
Er hatte ihm versichert, dass sie eine gute Polizistin war. Gerissen. Hart. Vielleicht etwas zu selbstbewusst und zu sehr von sich selbst überzeugt. Zumindest bis zu jener Nacht, in der sie einen Undercover-Einsatz in den Sand gesetzt und ihr Partner dafür die Rechnung bezahlt hatte. Frank war gezwungen gewesen, sie aus dem aktiven Dienst zu nehmen. Am Ende hatte sie schmachvoll gekündigt.
Warum, zum Teufel, musste diese Bewerbung ausgerechnet auf seinem Schreibtisch landen? Einen Cop mit einer Vorgeschichte wie dieser konnte er in seinem Team genauso wenig gebrauchen wie einen Tornado, der durch seine Stadt fegte. Warum hatte Frank ihn nicht gleich gebeten, von der Brücke am Logan Creek zu springen?
Doch Nick suchte nun schon seit fast einem Monat nach einem neuen Deputy. Angeschlagener Ruf hin oder her, Erin McNeal passte ins Profil. Und sie war Franks Nichte. Zu dumm, dass Frank ausgerechnet jetzt diesen Freundschaftsdienst
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