Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
vor der Brust.
„Du begreifst nicht", beharrte Chloe. „Es ist hier nun mal so Sitte, dass der Mann vorausgeht."
Ihm war in den Straßen der Stadt aufgefallen, dass die Frauen immer hinter ihren Männern hergingen, doch das wollte er sich gar nicht erst zur Gewohnheit machen. „Ich verstehe schon", gab er zurück. „Nur da, wo ich herkomme, wird das nicht so gehandhabt. Meine Vorfahren würden sich im Grab umdrehen, wenn ich das vergessen würde."
„Aber auf der Straße bist du auch vorgegangen."
„Das war etwas anderes. Es war zu gefährlich, dich vorgehen zu lassen."
„Dann ändern sich die Regeln je nach den Umständen?"
„Nur, wenn es um die Sicherheit geht. Versuch nicht, Verwirrung zu stiften, indem du die beiden Situationen vergleichst. Das geht nicht, weil sie unterschiedlich sind. Ihr beide könnt vorgehen, sonst bleiben wir für den Rest der Nacht hier stehen. Mir ist das gleich."
„Das ist ja lachhaft", zischte sie und bemühte sich, ihren Zorn im Zaum zu halten.
Vermutlich hatte sie damit Recht, aber diese eine Sache sollte so laufen, wie er es wollte. Er sah sie an, ohne etwas zu erwidern.
„Stimmt etwas nicht?" fragte Ayla und betrachtete die beiden abwechselnd, als versuche sie dahinter zu kommen, worüber sie sich in einer Sprache unterhalten hatten, die sie offenbar nicht ohne weiteres verstand.
„Er ist nur höflich", sagte Chloe, während sie ihm einen finsteren Blick zuwarf. „Auf seine sture amerikanische Art. Das Beste wird sein, wenn wir ihm seinen Willen lassen."
„Und wie machen wir das?" wollte die Witwe besorgt wissen.
„Ganz einfach so", erwiderte Chloe und ging hoch erhobenen Hauptes durch den Korridor voran.
Ayla machte noch immer einen verwirrten und unwilligen Eindruck, bis Wade sie am Arm fasste und mit sich zog. Endlich verstand sie, was er wollte, auch wenn sie sich nach ein paar Schritten von ihm löste und im Gegenzug seinen Arm packte, damit sie ihn beim Gehen stützen konnte.
Jegliche Zufriedenheit, die er verspürt hatte, war nur von kurzer Dauer. Der Raum, den sie betraten, sah aus wie ein Krankenzimmer. Es gab ein hohes Bett, dessen weißes Laken mit einer Plastikfolie abgedeckt war, ein Waschbecken in einer Ecke, einen Rolltisch mit ordentlich ausgebreiteten medizinischen Geräten. Auf den ersten Blick konnte er nirgends ein Tetanusserum oder ein Antibiotikum entdecken. Er hoffte von ganzem Herzen, dass Ahmads Klinge sauber gewesen war.
„Setzen Sie sich bitte auf das Bett", sagte die Witwe zu ihm. Während er auf dem hohen Bett Platz nahm, wandte Ayla sich an Chloe: „Soll ich nähen, oder willst du das machen?"
Chloe blickte unentschlossen drein. „Es ist vielleicht besser, wenn ich das mache", antwortete sie schließlich. „Du kannst immer noch weitermachen, wenn es mir zu viel wird."
„Augenblick mal", warf Wade ein, der wissen wollte, ob er im Wesentlichen richtig verstanden hatte, was die beiden Frauen auf Pashtu gesagt hatten. „Eine von euch wird die Wunde zunähen?"
„Wir können nicht das Risiko eingehen, dich in ein Krankenhaus zu bringen. Wir wissen nicht, was Ahmad unternommen hat und wer vielleicht alles nach uns sucht. Außerdem bist du hier besser aufgehoben als in einem staatlichen Hospital, wo Einwegnadeln möglicherweise mehrmals verwendet werden. Dies ist kein reiches Land."
„Das ist mir aufgefallen", erwiderte er sarkastisch.
„Aylas Mann war Arzt, und das hier war ein Teil seiner Privatklinik, in der sie ihm assistierte, bevor die Taliban kamen. Sie kann sich auch um dich kümmern, wenn dir das lieber ist."
„Ich glaube nicht", gab er zurück. Insgesamt betrachtet war es vermutlich dumm, doch er ließ sich lieber von jemandem behandeln, den er kannte.
„Gut. Sie muss sich auch noch um andere Dinge kümmern. Vor Tagesanbruch müssen wir von hier wieder verschwunden sein."
Er atmete kräftig durch, dann nickte er: „Gut. Es geht los."
„Ja, es geht los." Sie gab der Witwe ein Zeichen, dass alles in Ordnung war. Ayla verließ den Raum anmutiger und flinker, als ihre rundliche Figur hätte vermuten lassen. Chloe schloss unterdessen die Fensterläden und holte die Lampe näher heran. Sie stellte einen Abfalleimer neben sich und begann, den Schal zu lösen, den sie als Druckverband benutzt hatte.
Dabei musste sie sich über seine Schenkel beugen und drückte dabei ihr Becken dagegen. Wade fand das interessant, doch für sie musste es unbequem sein. Er legte ihr eine Hand auf die Taille, schob sie ein
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