Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
erschrecken konnte. Wade vermutete, dass Letzteres der Fall war. Sie hatte allerdings - besonders an diesem Abend - auch genug erlebt, das ihre Verfassung erklären konnte.
Die Ereignisse, die sich im Haus ihres Stiefbruders abgespielt hatten, waren einfach noch zu stark präsent. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, sie für den Moment zu verdrängen, um sich später mit ihnen zu beschäftigen, wenn genug Zeit verstrichen war, damit er sie mit genügend Distanz betrachten konnte. Im Augenblick gab es zu viele andere Dinge, die seine Aufmerksamkeit erforderten. Insbesondere galt es, auf den Beinen zu bleiben und nicht unachtsam zu werden, damit er auf alle Überraschungen reagieren konnte, die sie vermutlich noch erwarteten.
„Geht es?"
„Ja, es geht schon", erwiderte er.
„Nur noch ein kleines Stück, dann sind wir da."
„Du sagst, wo es langgeht", gab er zurück und versuchte, locker zu bleiben. Nur so konnte er sich zusammenreißen und auf den Beinen halten.
„Die Verletzung bereitet dir starke Schmerzen, nicht wahr?"
Sie irrte sich, doch ihre Sorge empfand er als rührend. „Mir geht es gut."
„Das glaube ich dir auf der Stelle", meinte sie sarkastisch.
Gott, was wäre bloß gewesen, wenn nicht ihre Stiefschwester, sondern sie selbst von Ahmad ermordet worden wäre und damit für seine mangelnde Weitsicht hätte büßen müssen. Er war fast sicher, dass er es nicht ertragen hätte, Johns Tochter zu verlieren. Gegen seinen Willen sah er vor seinem geistigen Auge, wie das Messer aufblitzte, wie das Blut floss. Woher hätte er wissen sollen, dass es dazu kommen würde? Wie hätte er damit rechnen können, dass Ahmad fanatisch genug sein könnte, um sogar sein eigen Fleisch und Blut zu töten? Es war so widernatürlich, dass es so gut wie unmöglich war, sich dagegen zu wappnen.
Nicht darüber nachdenken, sagte er sich eindringlich. Fang nicht an zu spekulieren, was wie oder warum anders hätte verlaufen können. Er betete zu Gott, dass der ihn davon abhielt, dieses schreckliche Ereignis mit dem zu vergleichen, was mit der Frau des Ölbarons geschehen war, auch wenn in beiden Fällen eine Frau zu Tode gekommen war, die nicht hätte sterben sollen. Nein, er würde sich nicht damit quälen, und er würde es nicht analysieren. Jedenfalls nicht jetzt.
Mit harscherem Tonfall als beabsichtigt fragte er: „Werden wir auch irgendwann hineingehen, oder wollen wir die Nacht hier draußen verbringen?"
„Du willst dich sicher hinsetzen, nicht? Oder lieber hinlegen?"
„Das ist ganz egal." Er wollte nur eines, nämlich sie ins Haus bekommen, damit niemand sie sehen konnte und sie außer Gefahr war.
„Okay. Irgendwo ist hier ein Nachtwächter unterwegs. Er müsste jeden Moment auftauchen."
Aus der Dunkelheit vor ihnen war zu hören, dass sich ein
Mann räusperte. Es war ein tiefer Ton, der auf einen älteren Mann und auf möglicherweise vom Rauchen geschädigte Lungen schließen ließ. Dann kam er in Sichtweite und schaltete eine kleine Taschenlampe ein, die auf den Boden vor seinen Füßen schien. Sein Gesicht war alt und faltig, seine Augen waren wie kleine Perlen in diese Falten eingebettet. Sein grauer Bart sah zottelig aus, und seine ausgebleichte Kleidung wirkte, als würde er in ihr auch schlafen. Das Gewehr, das unter seinem Arm klemmte, glänzte dagegen, da es jahrelang gehegt und gepflegt worden war.
Der alte Mann leuchtete ihnen ins Gesicht und stellte eine knappe Frage, die Wade nicht verstand, während Chloe darauf mit einem freundlichen Gruß reagierte. Sie bewegte sich nicht von der Stelle und blinzelte kaum, als ihr das grelle Licht in die Augen schien.
„Ah, die amerikanische Lady", sagte der Wachmann erfreut. „Seien Sie wieder in diesem Haus willkommen, und auch Sie, Ungläubiger."
So viel dazu, einen Ort zu finden, an dem wir gefahrlos untertauchen können, dachte Wade mürrisch. Er hoffte, der alte Mann war vertrauenswürdig. Zwar kannte er Chloe, und von ihrem Begleiter hatte er offenbar auch schon gehört, doch Wade wollte sich nicht einzig auf die Diskretion dieses Mannes verlassen. Stattdessen hielt er die Augen weiterhin offen, wie er es auch auf dem Weg hierher gemacht hatte.
Chloe erklärte mit wenigen Worten ihr Problem. Der Nachtwächter tippte sich an die Stirn. Es war offensichtlich, dass er über die Möglichkeiten nachdachte, die sich ihm anboten. Dann bedeutete er ihnen, ihm zu folgen, und führte sie langsam und bedächtig ins Haus.
Sie durchquerten eine Art
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