Der Bernsteinring: Roman
Groschen zuzuwerfen, nicht aber sie bei sich aufzunehmen und mit Liebe zu behandeln. Schon gar nicht gehen edle Damen alleine in die Bettelgassen, um widersätzige Mägde zu suchen.«
»Sie ist nicht meine Tochter.«
»So seid Ihr keine edle Dame.«
Anna lachte bitter auf.
»Eure Logik ist bestechend, Julius.«
»Das Wissen darum ist bei mir gut aufgehoben. Aber seht, die Muster im Leben eines Menschen wiederholen sich oft. Und ich denke, auch Ihr seid von jemandem von unten nach oben geholt worden und liebt ihn dafür. Und da Ihr keine Verbitterung in Euch tragt, sondern Dankbarkeit verspürt, handelt Ihr in dieser Weise. Gut, aber das macht es nur unverständlicher, warum die Kleine nicht zu Euch zurückkam.«
»Ich hatte sie an jenem Tag arg ausgezankt, weil sie abends so spät zurückkam.«
»Wenn jener, der Euch geholfen hat, Euch wegen eines Vergehens auszankte, würde Euch das dazu bringen, von ihm fortzugehen?«
»Nein.«
»Seht Ihr. Sie ist nicht weggelaufen. Ich fürchte, wir müssen Schlimmeres annehmen.«
»Ja, das fürchte ich ebenfalls. Die Straßen sind in der Nacht von seltsamen Gestalten bevölkert.«
»Was mich beunruhigt ist, dass sie alleine gegangen ist. Sie wusste, ich würde sie begleiten. Ich habe es am Abend zuvor ja auch getan.«
Annas Hände umklammerten fest den Becher.
»Ich denke, Ihr solltet dem Turmmeister ihr Verschwinden melden. Wer weiß, möglicherweise wird sie gefunden...«
»Ja, das werde ich wohl tun müssen.«
»Ich werde Euch begleiten, Frau Anna. Auch tagsüber solltet Ihr nicht alleine durch diese Straßen hier gehen.« »Ihr seid ein höflicher Mann, Julius.«
Sie machten sich gemeinsam auf den Weg, um an offizieller Stelle Valeskas Verschwinden zu melden. Anschließend bot Julius Anna an, sie noch zum Stift zu bringen.
»Habt Ihr nicht Eure Vorstellungen zu geben?«
»Später am Tag, Frau Anna. Ihr seht doch selbst, es hat kaum jemand Lust, über den Markt zu gehen, geschweige denn in der stechenden Sonne zu stehen und einem Bänkelsänger zu lauschen.«
Er beurteilte die Lage sicher richtig, der Alte Markt wirkte ungewöhnlich ruhig in den frühen Nachmittagsstunden. Nur ein paar Mägde mit hochgeschürzten Röcken und aufgerollten Ärmeln gingen ihren Besorgungen nach. Am Kax stand ein armer Sünder, der matt in die Sonne blinzelte. Er mochte unter der Hitze leiden, aberwenigstens bewarf ihn heute keiner mit stinkendem Unrat. Zwei Stadträte gingen gemächlich in Richtung Rathaus und grüßten höflich eine vornehme Bürgerin in einem leuchtend blauen Seidenkleid, die in Begleitung einer älteren Frau, wahrscheinlich ihrer Hausbeschließerin, an den Buden vorbeischlenderte.
Julius hielt plötzlich in seinem Schritt inne und starrte ihr nach.
»Rosa?«, fragte er leise.
Anna sah in dieselbe Richtung. Ja, es war Rosa. Für einen Augenblick schwankte sie. Sollte sie Julius die Wahrheit sagen? Was würde geschehen, wenn die beiden sich wieder trafen? Durfte sie Schicksal spielen? Rosa war Hrabanus’ Weib. Sie führte schon jetzt ein heimliches Leben. Anna hoffte inständig, dass sie keine Schande über den Ratsherren brachte. Nein, sie würde Julius nichts von Rosa berichten.
»Julius, kommt Ihr? Ich möchte wenigstens pünktlich zur Non in der Kirche sein.«
»Verzeiht, Frau Anna. Ich dachte nur, ein bekanntes Gesicht gesehen zu haben. Jemanden, den ich vor langer Zeit einmal kannte. Aber es ist sowieso nicht wahrscheinlich. Gehen wir.«
Anna beschloss, denselben Weg in das Stift zu nehmen, auf dem sie ihn verlassen hat. Die Rückkehr durch die Pforte in der Plektrudisgasse würde es ihr ersparen, der Pförtnerin ihren unbegleiteten Gang in die Stadt zu erklären. Vor der Immunitätsmauer verabschiedete Julius sich von ihr und fragte: »Sollte ich etwas über das Mädchen erfahren, Frau Anna, und ich erfahre vieles von vielen Menschen, wie kann ich Euch dann benachrichtigen?«
»Könnt Ihr schreiben?«
»Könnt Ihr lesen?«
»Notgedrungen. Ich bin die Stiftsschreiberin.«
Er lächelte anerkennend. »Dann will ich Euch einen Boten mit einem Brief schicken, wenn ich Neuigkeiten habe. Und nun lebt wohl, Frau Stiftsschreiberin Anna. Ihr habt es weit gebracht. Ihr werdet auch noch weiter kommen, wenn Ihr es wünscht.«
In ihrer Kammer wechselte Anna das Kleid und kam gerade noch zurecht, um an den Gebeten zur Non teilzunehmen. Der ruhige, feierliche Wechsel von Psalmengesang und Gebeten, die Kühle in den hohen Gewölben und den dicken Mauern der
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