Der Bernsteinring: Roman
Kirche, der alles umwehende Weihrauchduft schenkten ihrem aufgewühlten Gemüt ein wenig Frieden. Als die Kanonissen gegangen waren, blieb Anna noch eine Weile vor der göttlichen Mutter knien. Auch heute lagen wieder Äpfel zu ihren Füßen und verbreiteten ihr süßes Aroma. Sie betete stumm, aber leidenschaftlich für Valeska. Und während sie betete, wurde ihr klar, Julius, der tief blickende Sänger, hatte so Unrecht nicht. Valeska war ihr ans Herz gewachsen. Und ihre Gefühle dem Mädchen gegenüber waren mütterlich. Sie gestand sich in dieser stillen Andacht ein, es wäre besser gewesen, schon vor Jahren Hrabanus’ Vorschlag anzunehmen, den gutmütigen und achtbaren Carolus zu ehelichen. Sie hätte ihm ein treu sorgendes Weib sein sollen und seine Kinder gebären. Liebe, so wie sie ihr Herz verwirrt hatte, war von Übel. Und auch jene lustvolle Begierde, deren schnellem Reiz sie beinahe erlegen gewesen wäre, dieses Verlangen, das der Büchsenmeister Marcel le Breton in ihr geweckt hatte, konnte nicht von Dauer sein. Obwohl sie ein paar Nächte lang erwogen hatte, sich mit ihm zu treffen. Aber das verwarf sie nun, und als sie sich von den Knien erhob, stand ihr Entschluss endlich fest. Sie hatte keine Zweifel mehr. Wenn Hrabanus zurückkam,würde sie sich einverstanden erklären, seinen Partner zu heiraten.
Was aber nicht verflogen war, war die Sorge um Valeska.
Anna ging aus der Kirche direkt zum Mägdehaus, um sich nach dem Mädchen zu erkundigen. Niemand hatte sie jedoch bisher gesehen, und einige der älteren Dienstmägde erlaubten sich einige spitzzüngige Bemerkungen über bevorzugt behandelte kleine Schlampen, von denen nichts anderes zu erwarten war, als dass sie eines Tages das Weite suchten und dorthin zurückkehrten, von wo sie stammten. Anna hieß sie mit einigen scharfen Worten schweigen und sich um ihre Pflichten zu kümmern. Dann bat sie im Äbtissinnenhaus darum, bei der Ehrwürdigen Mutter vorsprechen zu dürfen.
Ida-Sophia rief sie zu sich und hörte sich an, was Anna berichtete.
»Du bist alleine in das Fremdenhospiz gegangen?« Missbilligend schüttelte sie den Kopf.
»Was sollte ich denn sonst tun?«
»Es mir melden. Mich um Erlaubnis fragen. Jemanden zur Begleitung mitnehmen. Es gäbe da mehrere Möglichkeiten. Aber, nun gut, es ist geschehen, und es ist grade noch mal gut gegangen. Uns bleibt aber jetzt wohl nichts anderes übrig, als zu warten, ob das Kind gefunden wird.«
»Ich weiß nicht, Ehrwürdige Mutter. Mir ist eben noch eine Möglichkeit eingefallen. Ich sollte noch einmal zu Rosa gehen. Valeska könnte bei ihr untergeschlüpft sein, als sie nachts nicht mehr an der Pforte eingelassen wurde.«
»Dann hätte die Ratsherrin sie aber gewiss am Morgen hergeschickt.«
»Denkbar...«
»Ich höre Zweifel in deiner Stimme. Du meinst, Frau Rosa will dir wieder einmal einen Streich spielen und behält sie bei sich, damit du dich sorgst. Ich verstehe deinen Gedankengang. Nun gut, dann such sie auf. Aber nimm bitte eine deiner Gehilfinnen oder eine Magd mit!«
»Danke, Ehrwürdige Mutter.«
29. Kapitel
Valeska wird gefunden
Elfrieda begleitete Anna in die Sternengasse. Da sie Valeska auch gerne hatte, nahm sie Anteil an Annas Sorge. Als sie am Haus »Zum Raben« eintrafen, herrschte dort eine ungewöhnliche Aufregung. Die Haustür stand offen, die Dienerschaft hatte sich in Grüppchen versammelt und tuschelte, zwei Büttel kamen vom Hof herein und stießen Anna und Elfrieda beinahe zur Seite, als sie mit grimmiger Miene das Haus verließen. Die ersten Nachbarn kamen aus ihren Häusern und scharrten sich auf der Gasse vor dem Haus zusammen.
»Hier ist doch etwas passiert!«
»Sieht ganz danach aus. Lass uns die Beschließerin oder den Verwalter fragen, ob Rosa zu sprechen ist.«
Da sich niemand um ihr Grüßen an der Tür kümmerte, traten sie unaufgefordert in das Haus. Zwei Frauen wandten sich zu ihnen um, und Anna bemerkte dir geröteten Augen der Beschließerin.
»Mathilde, ist Frau Rosa im Haus?«, fragte Anna sie. Doch statt einer Antwort schlug die ältere Frau nur die Hände vor dem Gesicht zusammen.
»Heilige Anna, was ist hier vorgefallen?«
»Die Gewaltdiener haben die Frau Rosa in den Turm geschleppt!«, antwortete eine andere, und ihre Stimme drückte Schaudern, aber auch Genuss am Entsetzen aus.
»Warum, in Gottes Namen?«
»Wegen...«
»Sei wohl ruhig, Trin!«, polterte der Hausverwalter,der jetzt ebenfalls vom Hof hinter dem Haus hereinkam.
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