Der Bernsteinring: Roman
aufmerksames und folgsames Mädchen gewesen. Auch wenn sie gelegentlich heimliche Ausflüge in ihren früheren Lebensraum gewagt hatte. Das mochte verständlich sein, wenngleich sie, Anna, diesen Wunsch nie gehegt hatte. Aber sie war auch älter und verständiger gewesen, als sie in das Stift eintrat. Valeska war noch ein Kind, jetzt ein junges Mädchen. Und die Spielleute mit ihrem bunten Treiben übten einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus. Anna erinnerte an die Bärin der Gaukler, mit der sich das einsame Kind einst angefreundet hatte. Sie dachte an die Geschichten, die jener Sänger so meisterhaft vorgetragen hatte, an die Possen der Narren. Ja, wahrscheinlich war die Kleine wieder zu den Fahrenden geschlüpft. Vielleicht aus Trotz, weil sie sie derartig hart ausgescholten hatte.
Anna ging zu Bett, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Einmal überlegte sie, ob sie etwas von dem Mohnsaft nehmen sollte, den Rosa ihr vor einigen Monaten gegeben hatte, als sie mit einem schmerzenden Fieber krank lag. Valeska hatte damals ganz geschickt gehandelt und Rosa an ihr Bett geholt. Sie wusste, Rosa kannte sich mit Heiltränken besser aus als mancher Arzt. Ihr Vater mochte zwar nur ein Theriakhändler gewesen sein, hatte aber auch die Kräuterkunde beherrscht. Anna öffnete ihreTruhe und suchte nach dem Fläschchen. Doch dann hielt sie inne. Nein, der süße Saft mochte ihr zwar Schlaf schenken, aber er hatte auch seltsame, sehr beängstigende Träume verursacht. Sie erinnerte sich noch viel zu gut daran. Verbotene Träume waren es, in denen sie Hrabanus begegnet war. Hingegen nicht als dem würdigen Ratsherren, sondern als einen Mann, der sie als begehrenswerte Frau betrachtete. Wirr war der Traum, denn sie stand am Ufer eines Meeres, das sie in ihrem Leben nie gesehen hatte. Ein breiter Sandstreifen lag vor ihr, feucht, von glitzernden Rinnsalen durchzogen. Doch nicht die weite Wasserfläche vereinte sich mit dem blauen Himmel am Horizont. Eine kleine, grüne Insel befand sich dazwischen. Nahe genug, um über die sandige Fläche zu ihr zu laufen. Ein gedrungenes Haus aus grauem Feldstein hockte auf der Anhöhe, umgeben von blühenden Büschen, und ein heller Kiespfad führte vom Strand auf den Hof hinauf. Sie sah hinüber und bemerkte den Mann, der aus der Tür trat und langsam diesen Pfad hinabging. Obwohl sie sein Gesicht nicht erkannte, wusste sie, dass er es war. Sie fühlte ihr Begehren, ihre Sehnsucht nach ihm, und ihre Liebe überschwemmte sie wie die Wogen des Meeres. So löste sie ihre Haare und ließ den Wind sein Spiel mit ihnen treiben. Wie magisch angezogen setzte sie die bloßen Füße auf den feuchten Sand, um zu ihrer Insel zurückzukehren. Zu ihrer Insel und dem Mann, zu dem sie gehörte. Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, flog krächzend ein Rabe vom First des Hauses auf. Sie hob die Hand, und er setzte sich auf ihre Faust. Seine dunklen Augen sahen in ihre Seele und lasen darin Dinge, die sie sich nie selbst eingestehen wollte. Dann breitete er seine Fittiche aus, gab einen rauen Schrei von sich und flog davon. Sie aber wollte weitergehen zu der Insel und ihrem Geliebten, doch die Flut kam in einergewaltigen grauen, schäumenden Welle und trieb sie an das Land zurück. Anna war in Tränen gebadet aufgewacht.
Entschieden legte Anna die Flasche mit dem betäubenden Trank zurück und schloss die Truhe.
Doch sie grübelte noch lange, und als sie im Morgengrauen erwachte, stand ihr Entschluss fest. Sie würde die Gauklertruppe aufsuchen, sollte Valeska sich nicht doch noch eingefunden haben. Und da sie vorhatte, Horsel ebenfalls nach dem Verbleib des Mädchens zu fragen, erschien es ihr am passendsten, ohne Begleitung in jene Gassen aufzubrechen, die gewöhnlich die Stiftsdamen nicht aufsuchten.
Die Magd war nicht erschienen. Anna zog ein unscheinbares braunes Leinenkleid an, das sie trug, wenn sie Arbeiten mit staubigen Dokumenten im Archiv zu erledigen hatte. Und dann griff sie im letzten Moment zu dem schweren Schlüssel, den Valeska ihr ausgehändigt hatte. Den Schlüssel zur Pforte am Lichhof.
Die Stiftsdamen hatten sich zum Mittagsgebet in der Kirche versammelt, als Anna über den Friedhof eilte und mit dem Schlüssel das leise quietschende Törchen öffnete. Der Tag war schwülwarm, und drückend lag die Luft in den stillen Gassen. Der heiße Sommer würde mit dem nächsten Gewitter zu Ende gehen, doch noch lähmte die feuchte Hitze alle zu hektischen Tätigkeiten. Die Handwerker
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