Der Bernsteinring: Roman
sie im Gewimmel verschwand. Auf der Tribüne wartete ein Dominikaner-Priester in seinem weißen Habit neben dem Sarg. Ein Raunen ging durch die Menge, als der verurteilte Rentmeister die Stufen erreichte, die zum Richtplatz hinaufführten. Er strauchelte, und Anna konnte sehen, wie bleich und schmerzverzerrt sein Gesicht war. Einer der Umstehenden half ihm wieder auf die Füße und stützte ihn. Mit Hilfe des Büttels erklomm erdie Stufen. Der Priester trat auf ihn zu und führte ihn, leise auf ihn einredend, zur Mitte. Der Mann straffte sich und hob den Kopf. Mit lauten Worten verkündete er seine Schuld und bat das Volk, für seine Seele zu beten. Dann ließ er sich die Augen verbinden und kniete nieder. Es wurde absolut still auf dem Heumarkt, die Menschen schienen den Atem anzuhalten und jede Bewegung zu vermeiden. Ein Glöckchen begann scheppernd zu läuten, und der Mann in Schwarz mit einem roten Wams trat hervor. Langsam und gemessen trat er neben den Knieenden.
«Das ist Falkomar, der beste Scharfrichter, den Köln je hatte«, raunte eine Frau neben Anna.
Dem Volk gönnte der Scharfrichter jedoch keinen Blick. Gebannt folgten sie dem glänzenden Stahl, als er mit beiden Händen das lange Richtschwert hob. Er hielt es einen Augenblick erhoben, dann fiel es mit einem harten Schlag herunter und trennte sauber den Kopf des Rentmeisters von seinem Leib.
Das Volk sog gleichzeitig die Luft ein, und ein zischendes Geräusch kündete von der Zustimmung für diese glatte und kunstreiche Enthauptung. Dann aber begann die Klage für den Toten. Der Scharfrichter, unberührt von dem Tosen um sich herum, reinigte mit einem weißen Tuch das Richtschwert vom Blut des Hingerichteten und stieg dann langsam, wie er gekommen war, wieder von der Tribüne herunter.
«Herrin, das war wunderbar, nicht wahr? Herrin? O heilige Anna, Herrin, Ihr werdet doch hier nicht umfallen! Man wird Euch zu Tode treten.«
Valeska zerrte an Annas Arm und schaffte es, sie mit Tritten und Ellenbogenstößen aus der Menge zu führen.«Herrin, lehnt Euch hier an.«
Sie hatten eine Seitenstraße betreten, die menschenleer war. Anna schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist schon gut. Lass uns nach Hause gehen.« »Herrin, ich wusste nicht, dass es Euch so graut. Entschuldigt meinen Vorwitz.«
»Schon gut, Valeska. Und nun schweig.«
Gehorsam trottete die kleine Magd hinter Anna her, die mit zunehmender Geschwindigkeit dem Stift entgegenstrebte. Als sie hier ankam, zog sie sich sofort in ihre Kammer zurück und schloss die Tür hinter sich.
Mit bedächtigen Bewegungen zog sie unter den zusammengelegten Gewändern in ihrer Kleidertruhe das Kästchen hervor, in dem sie ihren Schmuck aufbewahrte. Sie öffnete es und nahm den Bernsteinring heraus. Das Licht ließ den polierten Stein wie goldenen Honig aufschimmern, in dem sich ein dunkleres Kreuz verbarg.
Ein Rätsel hatte sich gelöst.
Der Ring, den sie aus der Hand des ersten und einzigen Mannes erhalten hatte, der ihren Leib besessen hatte, war der Ring des Henkers Falkomar.
Nicht das Blut, nicht der allmählich nach vorne sinkende Körper des Rentmeisters, nicht der rollende Kopf mit seinem im stummen Schrei geöffneten Mund hatte sie beinahe ohnmächtig werden lassen. Es war der Anblick des Scharfrichters, den sie auch nach zwölf Jahren noch wiedererkannt hatte. Jetzt verstand sie sein Verhalten und seine Worte von damals besser. Er hatte ihr seinen Namen verweigert, um ihr das Wiedererkennen zu ersparen. Nun ja, Falkomar hatte den Ruf, ein geübter Scharfrichter zu sein, der seine Opfer schnell und sicher dem Tod übergab. Es hieß sogar, er sei barmherzig, wenn es um die Vollstreckung der Köperstrafen wie Rädern und Vierteilen ging. Angeblich tötete er die Verurteilten durch einen heimlichen Griff, bevor die Torturen zu schlimm wurden. Möglicherweise stimmte das,dachte Anna. Der Mann war kein tierischer Schlächter. Aber ob sie noch jemals den Bernsteinring tragen würde bezweifelte sie.
Nach der Vesper ging sie ins Skriptorium und nahm sich das Blatt, von dem sie bislang nur die erste Seite vollendet hatte. Für die Complet hatte sie eine verzauberte Flusslandschaft in der Abenddämmerung entworfen. Nebel schlich sich durch das Schilf, bizarre Kopfweiden warfen purpurne Schatten, und silbrige Forellen sprangen aus dem stillen Gewässer. Ein einzelner, sehr heller Stern stand am indigoblauen Himmel. Darunter hatte sie die Worte aus dem 19. Psalm geschrieben: »Die Himmel erzählen die
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