Der Bernsteinring: Roman
Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament.«
Nun aber gestaltete sie die Szene der Hinrichtung, die sie an diesem Tag erlebt hatte, mit dem Silbergriffel. In den nächsten Tagen würde sie sie farbig auslegen. Den Spruch bereitete sie ebenfalls vor und schrieb auf die feine Linie unterhalb des Bildes: »Unter den Heiden hält er Gerichtstag und Tote liegen zuhauf, weithin auf Erden zerschlägt er die Häupter.«
Als das Licht zu schwach zum Zeichnen wurde, räumte sie ihre Utensilien zusammen und verließ das Skriptorium. Zum Chorgebet der Complet war sie nicht gegangen, und das erste Mal in ihrem Stiftsdasein war ihr dieses Versäumnis vollkommen gleichgültig. In ihrer Kammer fand sie Valeska vor, die sorgsam ein Kleid zusammenfaltete. Sie sah schuldbewusst auf, als Anna eintrat.
»Du solltest zu Bett gehen, Kind. Es gibt hier nichts für dich zu tun.«
»Ihr seid nicht in der Kirche gewesen, Frau Anna.« »Ich habe an meinem Buch gearbeitet.«
»Ich habe Eure Seele schwer gemacht.«
»Nein, Vally, das hast du nicht.«
Die Magd schluchzte auf, als sie sich mit dem Kosenamen angesprochen hörte, den ihre Herrin dann und wann gebraucht hatte, als sie das Kind, das sie einst war, trösten wollte. Valeska und Anna pflegten eine viel engere Bindung als üblicherweise zwischen Magd und Stiftsschreiberin zu erwarten wäre, doch beide sprachen nie darüber und vermieden es sorgfältig, den anderen Zeugnis davon zu geben. Nur Rosa wusste noch davon.
»Darf ich Euch die Haare bürsten, Herrin.«
»Ja, tu das.«
Anna setzte sich auf den Schemel am Fenster, und Valeska stellte die Kerze auf den Sims. Mit geschickten Fingern löste sie die schwarzen Flechten und begann, die langen Haare gründlich auszubürsten. Anna schloss die Augen. Nach einiger Zeit fragte Valeska vorsichtig: »Ihr macht Euch Sorgen um Frau Rosa, nicht wahr?«
»Ja, das tue ich. Sie war heute sehr zurückhaltend, als sei ich eine Fremde für sie.«
»Sie verbirgt etwas vor Euch. Aber ich weiß, was sie tut. Herrin, es ist besser, Ihr wisst es. Vielleicht könnt Ihr mit ihr reden.«
»Was ist es, Valeska?«
»Sie geht nachts wieder zur Schmierstraße.«
»O nein.«
»Doch, wie einst, als sie noch hier gewohnt hat.«
»O heilige Anna, sanfte Mutter Mariens! Das habe ich nicht gewusst.«
»Doch, sie ist oft nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal fortgegangen.«
»Wie konnte sie das? Die Pforten sind nachts geschlossen, und die Pförtnerin wird sie schwerlich für sie geöffnet haben.«
»Sie hatte einen Schlüssel von der Pforte am Lichhof. Fragt mich nicht, woher.«
»Und, bitte schön, Valeska, woher weißt du das?«
»Ich bin ihr einmal gefolgt. Ich konnte nicht schlafen und habe aus dem Fenster der Mägdekammer geschaut. Ich sah eine Gestalt über den Hof huschen und dachte, es sei ein Gespenst. Aber dann fiel die Kapuze herunter, und ich erkannte ihr Gesicht.«
»Neugierig wie eine Katze!«
Valeska kicherte ein wenig.
»Ja, ich bin hinter ihr her. Sie ging zum Lichhof. Ich hatte Angst zwischen den Gräbern im Dunkeln. All die Gräber und die Toten. Aber Frau Rosa schritt aus, als kennte sie den Weg und fürchtete sich nicht vor den Geistern. Sie schloss das Tor auf und schlüpfte hinaus.«
»Hat sie es etwa offen gelassen?«
»Nein. Sie schloss es von außen wieder ab.«
»Und du bist ins Bett zurückgegangen?«
»N... nein.«
»Nein! Aha.«
»Nein, ich habe... es gibt da eine Stelle...«
»Über die man klettern kann, wenn man jung und geschmeidig ist.«
»Und nicht schwer ist. Der Apfelbaum an der Südwand...«
»Ich verstehe. Du bist ihr also gefolgt.«
»Ja. In der Gasse ist sie schnell weitergegangen, Richtung Alter Graben. Da kenn ich mich aus, Herrin. Sie suchte den ›Kessel‹ auf und auch den ›Vollen Krug‹. Sie kennt die Beckersche Horsel und hat mit ihr geschwatzt. So hab ich herausgekriegt, dass sie Ausschau nach den Fahrenden hält, die dort einkehren. Meistens steigen die im Hospiz Ipperwald ab, dem Fremdenhospital.«
»Ich weiß.«
»Ja, Herrin, Ihr wisst das. Aber Ihr solltet es besser vergessen.«
»Das kann ich nicht. Und seit heute schon gar nicht mehr.«
»Es ist bei der Hinrichtung etwas geschehen, das Euch erinnert hat.«
»Ja, Valeska. Und das ist wirklich nicht deine Schuld. Lassen wir es ruhen. Sag mir lieber, wie dein nächtliches Abenteuer ausgegangen ist.«
»Nun ja, ich kann mich ganz gut unsichtbar machen. Das hab ich als Kind dort gelernt. Frau Rosa hat
Weitere Kostenlose Bücher