Der Bernsteinring: Roman
sich von ihm weg, um über das glitzernde Wasser zu schauen, das sich in einem weiten Bogen nach Süden wand.
»Wann kann ich Euch wieder sehen, Frau Anna?« »Ich weiß es nicht. Meine Aufgaben lassen mir wenig
Zeit, und die Regeln sind sehr streng im Stift.«
»Und es gibt kein Schlupfloch – in den Regeln oder in
der Mauer?«
»Ich habe noch nie danach gesucht.«
»Dann schärft doch Euren Blick einmal. Ihr wisst, wo Ihr mich findet.«
»Wir gehen jetzt zurück, Büchsenmeister. Begleitet uns über den Wehrgang bis zum Rheingassentor. Von dort ist es nicht weit bis zum Marienstift.«
Im Windschutz des Bayenturms ordnete Anna ihre Haare wieder einigermaßen und ließ sich von Heilgard helfen, den Schleier so zu befestigen, dass er ihr nicht wieder entschlüpfen konnte. Als die beiden sich von dem Büchsenmeister verabschiedet hatten und die RheingasseRichtung Stift gingen, sagte die Pistorin: »Der nicht, Frau Anna. Der nicht! Der ist ein Freibeuter und wird Euer Herz zerbrechen.«
»Ich weiß, Heilgard.«
»Madonna! Ist es schon geschehen? In Euren Augen liegt die Schwärze der Trauer.«
»Es ist nichts geschehen. Mein Herz hat ein anderer zerbrochen. Vor langer Zeit schon.«
»Oh. Verzeiht.«
»Es macht nichts mehr.«
Aber da war die Stiftsbäckerin anderer Meinung.
Doch die Begegnung mit dem Büchsenmeister, diesem gesunden, kraftvollen Mannsbild, mit seiner unbekümmerten Dreistigkeit, hatte Anna nachdenklich gemacht. Und nicht nur er.
Marcel le Breton, Falkomar der Henker und Hrabanus’ Partner Carolus – diese drei Männer in ihrem Leben gaben Anna viel Stoff zum Nachdenken, brachten ihr schlaflose Nächte und bewogen sie schließlich zu zwei ungewöhnlichen Handlungen.
Die eine bestand darin, dass sie mehrmals die Gebete zur frühmorgendlichen Laudes versäumte und bereits einen Rüffel von der Äbtissin erhalten hatte. Doch er fiel milde aus, denn das Gesicht der übermüdeten Schreibmeisterin dauerte Ida-Sophia, und sie trug Anna auf, nicht mehr so lange an ihrem Stundenbuch zu arbeiten.
Die zweite Handlung hatte subtilere Auswirkungen. An dem folgenden Sonntag stattete Anna nach der Vesper dem Lichhof einen Besuch ab und pflückte von dem knorrigen Apfelbaum an der sonnigen Südwand einen der ersten rotbackigen Äpfel. Mit einem feinen Wolltuch polierte sie ihn, bis er schimmerte und glänzte. Siebarg ihn in den Falten ihres Chorgewandes, und als sich nach der Komplet die Kirche leerte, blieb sie zurück, um sich zu einem inbrünstigen Gebet vor die Marienstatue zu knien. Es war ein schlichtes Bildnis, das Maria als zärtliche Mutter zeigte, die ihren Sohn, kein Säugling mehr, sondern etwa drei oder vier Jahre alt, liebevoll an sich gedrückt hielt. Die Legende sagte, der heilige Her- man Joseph von Steinfeld habe vor beinahe dreihundert Jahren als Junge hier häufig gebetet. Eines Tages reichte er, in völliger Versunkenheit, dem Jesuskind einen roten Apfel, den er eigentlich selbst hatte essen wollen. Der Knabe streckte die Hand aus und nahm den Apfel. Danach erfüllte sich dem frommen Jungen der brennende Wunsch, Priester zu werden. Seither hieß es, ein Apfel zu Füßen der Madonna helfe, dass innig vorgetragenen Wünsche der Betenden sich erfüllten. Es lagen stets zwei, drei Äpfel, von unbekannter Hand gespendet, zu Füßen der heiligen Mutter und ihrem Kind.
Nun lag Anna vor dieser Marienstatue auf Knien und betete zu der Himmelskönigin aus so vollem Herzen, wie sie es zuvor noch nie getan hatte. Sie bat um Hilfe, denn die Entscheidung, für die, wie sie spürte, jetzt die Zeit reif war, würde ihr Leben grundlegend verändern. Sie betete lange. In der Kirche war es schon dunkel geworden, nur das ewige Licht über dem Altar und die Kerze, die sie für Maria und ihren Sohn angezündet hatte, spendeten noch ein wenig Helligkeit. Der allgegenwärtige Duft des Weihrauchs mischte sich mit dem Geruch des Apfels in ihren Händen, als sie schließlich ihre stumme Zwiesprache mit der barmherzigen Fürsprecherin beendete. Sie sah zu ihr auf, aber ihre Gedanken wanderten trotz der zuvor geäußerten Bitten zu Hrabanus, dem Mann, der ihr das zweite Mal die Möglichkeit eröffnete, ein neues Leben zu beginnen. Und Anna,die siebenmal am Tag und an sieben Tagen in der Woche die Psalmen sang, dachte nicht mehr über die Formulierungen nach, die sie verwendete. So sprach sie laut, ohne es wirklich zu bemerken: »Lege ich mich nieder, so schlaf ich auch bald in Frieden, denn du, o Herr,
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