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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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seinem Cottage, das früher einmal ein Stall gewesen war, ging er pissen und putzte sich die Zähne, machte sich jedoch nicht die Mühe, sich umzuziehen.
    Sie hatten ihm den Honda dagelassen, das war der beste der Wagen, die sie mitgebracht hatten.
     
    Marvel war noch immer ganz verschlafen, als er aus der Einfahrt der Farm in die Straße einbog. Wieder war der Schneematsch über Nacht gefroren, und der Honda rutschte sofort ein wenig zur Seite. Er fing ihn mit Leichtigkeit ab und blieb den Hügel hinunter im zweiten Gang.

    Auf halbem Weg sah er jemanden vor sich auf die Straße treten. Unbeholfen. Jemand kam die Steinstufen vor einem der Cottages herunter auf die Fahrbahn. Er begann zu bremsen, und der Wagen wurde sachte langsamer.
    Jetzt konnte er sehen, dass es eine Frau war, die an Krücken ging. Nicht solche altmodischen Achselstützen, sondern die mit dem Griff und den Bögen für die Unterarme. Die Frau war jung, aber ihre Beine waren verkrüppelt  – so viel konnte er sehen. Und sie hatte anscheinend keinen Mantel an, nur einen dicken Pullover über einem geblümten Rock. Und Gummistiefel. Alle hatten diese Scheißdinger, nur er nicht!
    Marvel rechnete damit, dass die Frau den Hügel hinuntergehen würde, dicht an der Hecke entlang. Er dachte, er würde anhalten und sie mitnehmen. Man müsste ja ein Unmensch sein, das nicht zu tun.
    Doch anstatt sich umzuwenden, humpelte die Frau langsam in die Mitte der Fahrbahn hinaus; dann drehte sie sich zu ihm um und stand einfach da.
    Marvel bremste fester.
    Zu fest.
    Die Räder blockierten, und der Honda rutschte seitlich weg. Er schlug das Lenkrad in die Gegenrichtung ein und dachte schon, er hätte es geschafft, dann griffen die Reifen kurz, und der Wagen geriet abermals ins Schleudern. Er schlingerte noch einmal und begann dann  – alles in Zeitlupe  –, quer die Straße hinunterzurutschen. Marvel drehte am Lenkrad und bremste, umsonst.
    Aus dem Seitenfenster sah er die Frau an, die auf ihre Krücken gestützt auf der Straße stand und seinem ungewöhnlichen Herannahen zusah. Einem Teil von ihm war das alles peinlich, doch ein immer größer werdender Teil begriff allmählich, dass ihr nicht klar war, dass er keinerlei Kontrolle über den Wagen hatte.
    Sie stand einfach nur da! Als ob sie irgendwie erwartete, dass er um sie herumfuhr!

    Dreißig Meter von der Frau entfernt streifte der Honda die Hecke und schlingerte, dann rutschte er in nur leicht verändertem Winkel weiter.
    Und sie stand immer noch einfach nur da.
    Marvel brüllte: »Weg da!« durch das geschlossene Seitenfenster, dann rammte er den Handballen auf die Hupe.
    Sie rührte sich nicht. Die Straße war schmal, der Wagen war breit, es war undenkbar, dass er sie nicht erwischte, es sei denn, sie machte, dass sie wegkam. Einen unwirklichen Moment lang sah Marvel ihr in die Augen, und ihm ging auf, wie schön sie war. Und wie gefasst.
    Marvels ganze Zukunft zuckte vor ihm auf: das entsetzliche Ruckeln, mit dem der Wagen die Frau überrollte, das Grauen des zermalmten Leichnams, das blitzende Blaulicht  – und das rote Licht des Alkoholtestgeräts, die Demütigung einer Zelle in seiner eigenen Dienststelle, der selbstgefällige Ausdruck auf Reynolds’ für alle Zeiten ungeohrfeigtem Gesicht. Der Kragen seines guten Hemdes eng um seinen Hals, als der Sprecher der Geschworenen sich erhob, um ihn schuldig zu sprechen. Die latente Dauerfurcht als Cop im Knast, die Resozialisierungseinrichtung, die Einzimmerwohnung, der Aushilfsjob in irgendeinem Büro, den er bekommen würde, wenn er Glück hatte. Der gegelte Jungspund von Vorgesetztem, der Worte wie »outsourcen« und »Facebook« gebrauchte …
    Der Albtraum, zu dem sein Leben werden würde im Bruchteil einer einzigen Sekunde.
    Dann stieß das Heck gegen die Böschung auf der anderen Straßenseite, der Honda prallte in einem neuen Winkel davon ab und schlitterte  – wundersamerweise  – in dem ultraschmalen Zwischenraum zwischen ihr und der Hecke an der Frau vorbei. Der Seitenspiegel traf sogar eine ihrer Krücken, und er hatte beim Vorüberkommen genug Zeit, um zu sehen, wie sie taumelte, aber nicht hinfiel.
    Ein weiterer markerschütternder Aufprall ließ das Auto in
einen flachen Graben rutschen, wo es abrupt genug zum Stehen kam, dass er mit der Stirn gegen das Lenkrad knallte.
    Einen Augenblick lang war Marvel benommen und stierte stumpf auf das etwas altbacken anmutende Honda-Logo in der Mitte des Lenkrades, das unverhofft dicht

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