Der Beschütze
zweiten Gartentor hinauf und tastete im Dunkeln nach dem Riegel. Dabei hörte er etwas aus dem Rose Cottage. Er hielt den Atem an und lauschte.
Da war es wieder. Laute Stimmen.
Steven war verblüfft. Er war es gewohnt zu hören, wie Kunden sich anschrien, wenn er den Briefschlitz öffnete und einen kurzen Moment lang ihr Leben mitbekam. Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal den Briefschlitz der Randalls aufgeklappt und nicht gehört hatte, wie Neil seinem Vater irgendetwas entgegenbrüllte.
Doch im Rose Cottage hatte er noch nie laute Stimmen gehört.
Einen Augenblick lang stand er unentschlossen in der Kälte und Finsternis. Er mochte Lucy Holly sehr gern. Mr. Holly mochte er auch – auch wenn er im Burggraben von Stevens Erinnerung herumgeplanscht hatte. Das hatte Steven nicht gefallen, doch er verstand, dass es Aufgabe eines Polizisten war zu fragen. Außerdem war Mr. Holly eine Einnahmequelle für ihn.
Also hatte Steven, als er beschloss, das Tor zu öffnen und
die paar Schritte bis zur Haustür des Cottage zu gehen, sich noch nicht entschieden, auf wessen Seite er sein sollte, wenn er dort ankam.
Lucys Unterlippe zitterte, doch sie saß aufrecht und entschlossen da.
»Es ist mein Leben, Jonas. Es ist mein Recht.«
»Nein!«
Das hier war schlimmer als eine Affäre. So viel schlimmer! Wäre Jonas heimgekommen und hätte Brian Connor auf seiner Frau vorgefunden, wäre sie durchgebrannt und hätte ihm eine Postkarte von Hawaii geschickt, es wäre nur ein Millionstel so schlimm gewesen wie das. Wie konnte sie ihm das antun? Wie? Nach den Tabletten? Nach den Tränen? Nachdem sie sich so gemüht hatten und so weit gekommen waren? Nachdem sie einander in den Armen gehalten und sich geliebt und »Ich liebe dich!« geflüstert hatten, in dem Bett, wo auch seine Eltern einander geliebt hatten? Nachdem er sie beschützt hatte…
Wollte sie immer noch sterben.
Dumpf schüttelte er den Kopf, sah das Grauen in seinem Kopf, wie er es niemals in einem Film gesehen hatte.
Lucy erhob sich, stand fast kerzengerade da.
»Es ist meine Entscheidung«, sagte sie leise.
Er schlug zu.
Er schlug mit einer schweren Hand am Ende eines langen Armes zu, der rasch vorschnellte. Der Schlag wirbelte sie herum und warf sie auf die Knie aufs Sofa. Ihr Gesicht prallte von der Wand ab, die sie gemeinsam neu gestrichen hatten, eine Woche, nachdem sie eingezogen waren. Sommermorgen hieß die Farbe. Und als Lucy sich schluchzend zusammenkrümmte, bemerkte Jonas distanziert den Blutfleck, der jetzt den Horizont über der Rückenlehne des Sofas verunzierte.
Er beugte sich über sie, stützte eine Hand neben dem Blut an die Wand, die andere auf die Armlehne des Sofas.
»Nein«, sagte er abermals.
»Aufhören!«
Jonas schaute sich um und erblickte Steven Lamb im Flur. Der Junge stand da und umklammerte den Riemen der grellgelben Tasche über seiner Schulter mit beiden Händen, als verhindere der, dass er aus großer Höhe abstürzte. Selbst vom anderen Ende des Zimmers aus und im Halbdunkel konnte Jonas sehen, dass er zitterte.
»Hören Sie auf!«, rief er noch einmal. Die Worte splitterten und vibrierten vor Angst.
»Steven, geh raus!«, schluchzte Lucy ihm hinter ihren Händen hervor entgegen.
Doch er tat es nicht. Er stand einfach nur da und zitterte und starrte Jonas an.
»Lassen Sie sie in Ruhe!«
Jonas richtete sich auf, und Lucy duckte sich von ihm fort.
Er musste weg.
Ohne sie auch nur noch einmal anzusehen, schritt er durchs Wohnzimmer.
Steven Lamb wich zurück, stieß gegen den Tisch im Flur und warf die Vase mit den welken Nelken um. Einen Ausdruck resignierten Entsetzens auf dem Gesicht, sah er Jonas auf sich zukommen; dann trat er im letzten Moment zur Seite, als ihm klar wurde, dass der andere gar nicht auf ihn zukam.
Jonas ging an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und schloss leise die Haustür hinter sich.
Langsam sackte Steven auf die kalten Steinfliesen, den Rücken gegen das Treppengeländer gelehnt, die Arme fest um die Knie geschlungen.
Lucy schaute vom Sofa auf und sah, dass Jonas fort war und dass Steven im Flur hockte.
Sie berührte ihren Mund, wo warmes Salz aus ihrer Lippe sickerte, und versuchte, mit dem Schluchzen aufzuhören.
Unbeholfen schob sie sich rückwärts vom Sofa und kroch auf Knien über den Boden; sie traute ihren Beinen nicht zu, sie durchs Zimmer zu tragen. Dann kniete sie neben dem Jungen im Flur und legte die Arme um
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