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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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bei sich. Etliche angemessen empörte, zornige und betrogene Worte wirbelten kurz in seinem Kopf, brachten jedoch nicht die Energie auf, es bis aus seinem Mund zu schaffen. Er gab sie einfach auf.
    »Er ist von Exit, Jonas.«
    Sie warf ihm einen raschen Blick zu, um zu sehen, wie er reagierte, doch er sah sie verständnislos an. Lucy räusperte sich und machte eine Geste mit beiden Händen, die halb Achselzucken und halb Flehen war.
    »Die helfen Leuten … ich meine … sie unterstützen … aktive Sterbehilfe.«
    Jonas gab einen Laut von sich, der noch nie aus seinem Mund gekommen war. Schmerz und Schock und Wut. Wie aus einem Schleudersitz abgeschossen schnellte er hoch und starrte auf Lucy hinab, deren Gesicht vom blassblauen Flackern des Fernsehers überspült wurde.
    »NEIN!«, brüllte er. »NEIN!«
     
    Lucy Holly wäre auch dann Stevens Lieblingskundin gewesen, wenn ihr Mann ihm nicht jeden Monat fünf Pfund Trinkgeld gegeben hätte, damit er auf sie aufpasste.
    Ihm gefiel es, mit ihr zusammen in ihrem gemütlichen Wohnzimmer zu sitzen, wo das Feuer fast immer brannte und es wunderbar nach Wärme und Winter roch. Es gefiel ihm, dass sie nur selten versuchte, Konversation zu machen  – ihn zu fragen, wie es ihm ginge und was er so mache und ob alles in Ordnung sei. Selbst sein bester Freund Lewis streckte von Zeit zu Zeit die Fühler aus. Doch Steven hatte immer das Gefühl, dass sie auf Zehenspitzen um das Thema herumschlichen, das ihn wie ein Burggraben umgab.
    Er mochte das nicht.
    Er mochte nicht erinnert werden.
    Mit Lucy Holly schweigend dazusitzen, während nachgemachte Angst im Fernseher lief, war für Steven daher seltsam tröstlich. Die Horrorszenen machten ihm nur selten zu
schaffen, und wenn sie es einmal vielleicht doch tun könnten, schloss er die Augen. Doch das warme Schweigen beruhigte ihn und ließ manchmal sogar ein bisschen Konversation in seinem Kopf aufblitzen. Im Laufe der Jahre hatte er Extrakte seines Lebens mit Mrs. Holly geteilt und dabei erfahren, dass er für jemanden außerhalb seiner Familie interessant sein konnte, und zwar aus anderen Gründen als dem, dass er noch am Leben war, wo er doch  – eigentlich  – tot sein sollte.
    Als er sich jetzt im Schnee den Hügel hinauf auf das Rose Cottage zuquälte, hoffte Steven, das Mrs. Holly sich gerade etwas richtig Gutes anschaute  – aber nicht so gut, dass er Gewissensbisse hatte, sie mit einer kleinen Anekdote über seinen kleinen Bruder Davey zu stören, der gerade aus Versehen seinen letzten Milchzahn verschluckt hatte und dem dementsprechend das letzte Fünfzig-Pence-Stück durch die Lappen gegangen war, das er jemals für nichts und wieder nichts von seiner Nan gekriegt hätte. Da Davey das Geld im Kopf schon mindestens zehnmal ausgegeben hatte, war die Tragödie für ihn umso größer, während das für Steven das Ganze nur umso komischer machte.
    Auf der schmalen Straße reichte ihm der Schnee bis ans Schienbein, und Steven trug Gummistiefel und Regenhosen und hielt den Kopf gesenkt, während er bergauf trottete. Er starrte auf die kristallene Oberfläche, die er gleich mit jedem Schritt zerbrechen würde, glatt und in der raschen Dunkelheit des Winters blassgrau.
    Er kam an dem Telegrafenmast auf halber Höhe des Hügels vorbei und hörte ihn unter dem Gewicht von Schnee und Eis auf den Leitungen knarren. Unheimlich.
    Die knallgelbe Tasche über seiner Schulter enthielt heute Abend nur Werbung. Frank Tithecott gab ihm einen Fünfer pro Woche, damit er sich nicht selbst die Mühe machen musste, das Zeug in die Briefkästen zu stopfen, und Steven hob sich das für den Abend auf, wenn er das Geld von den
Kunden einsammelte. Zu Mrs. Holly ging er gern als Letzter, um sicher zu sein, dass er hinterher direkt nach Hause gehen konnte und sich nicht zu hetzen brauchte.
    Endlich blickte er auf und sah, dass er es bis zum Tor des Honeysuckle Cottage geschafft hatte. Mrs. Paddon bekam keine Zeitung. Er hatte einmal bei ihr angeklopft, um zu sehen, ob sie vielleicht eine bei ihm bestellen wollte, doch sie hatte ihn mit einer Handbewegung weggescheucht, als sei er ein Zeuge Jehovas, und gesagt: »So was wollen wir hier nicht.« Steven fragte sich noch immer, was sie wohl anstelle von »Würden Sie gern die Western Morning News bestellen?« aus seinem Mund hatte kommen hören. Selbst nach all der Zeit war ihm nichts eingefallen, was auch nur im Entferntesten unanständig klang.
    Steven stieg die drei Steinstufen zu dem

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