Der Beschütze
dichter Dampf.
Er stand wohl schon ziemlich lange unter der Dusche.
Jonas hatte Hunger. Brüllhunger. Sogar durch das Rauschen des Wassers konnte er seinen Magen knurren hören.
Langsam drehte er sich um, blinzelte sich das Wasser aus den Augen, dann wischte er darüber und schaute abermals auf das Fenster, das vom Moor abgewandt war und auf die Springer Farm hinausging. Obwohl die dunkle Glasscheibe nur das erleuchtete Bad widerspiegelte, flackerte irgendetwas in ihrer Mitte. Verdutzt blickte Jonas über seine Schulter, um zu sehen, was so eine Spiegelung auslösen könnte, doch hinter ihm war nur das Spiegelschränkchen, dessen Scheiben vom Dampf beschlagen waren.
Jonas trat unter der Dusche hervor und wischte einen Streifen auf dem kleinen Seitenfenster frei.
Durch diesen Streifen konnte er recht deutlich sehen, dass die Springer Farm brannte.
Der fehlende Knopf veränderte alles für Lucy.
Sie betrachtete den losen Faden über dem verbliebenen Zwillingsbruder des Knopfes und war wie vor den Kopf geschlagen, dass es so sein konnte. Dass es das hier war – dieses einsame schwarze Fädchen –, das sie dazu bringen konnte, an dem Mann zu zweifeln, den sie von ganzem Herzen liebte, während die Ohrfeige das nicht vermocht hatte.
Das war doch nicht logisch. Dass Jonas einen Knopf von seiner eigenen Uniformhose als Beweisstück einreichte, wenn er versuchte, Dannys Spuren zu verwischen. Das war nicht logisch gewesen, als sie es zu Marvel gesagt hatte, und jetzt war es auch nicht logisch.
Es sei denn, Jonas hatte nicht gewusst, was er tat.
Oder was er getan hatte.
War das möglich?
Lucy saß vollkommen regungslos da und starrte auf die Stelle, wo der Knopf gewesen war. Sie tastete nach Klarheit, nach einem winzigen Halt an irgendeiner Wirklichkeit, die sich nicht anhörte wie der Plot eines ihrer Horrorfilme.
Der Exorzist blitzte vor ihrem Verstand auf. Das Kind, das in dem tobenden Dämon gefangen war und verzweifelt die Worte Hilf mir durch die zarte Haut seines Oberbauchs presste. Dabei musste sie an Jonas’ Gesicht an ihrem Krankenhausbett denken. Das Gesicht eines verängstigten Kindes, das in die gähnende Leere starrt.
Oder das daraus hervorstarrt.
Hilf mir.
Sie schauderte.
Bei ihren Vorlesungen über klinische und abnormale Psychologie waren kurz auch multiple Persönlichkeitsstörungen behandelt worden. Patienten, die als zwei, drei – manchmal sogar mehr – verschiedene Personen lebten. Teilpersönlichkeiten
wurden diese Personen genannt, fiel es ihr jetzt wieder ein. Ein Mann war sogar einmal einer Gefängnisstrafe wegen Vergewaltigung entgangen, nachdem das Gericht anerkannt hatte, dass er nicht gewusst hatte, dass eine seiner Teilpersönlichkeiten das Verbrechen begangen hatte.
War Jonas auch so ein Fall? War ihm als kleinem Jungen etwas Schreckliches zugestoßen, das seinen Verstand in mehrere brüchige Stücke hatte zerspringen lassen?
Sie dachte an das Foto von dem sorglosen Kind. Irgendetwas hatte Jonas verändert, irgendein Trauma. Hatte es etwas mit Danny Marsh zu tun? Mit dem Brand auf der Farm? Mit Pferden? Hatte Marvel tatsächlich recht gehabt? Lucy schauderte bei dem Gedanken.
Jonas stand schon seit Jahren unter Druck. Der Tod seiner Eltern, ihre Diagnose, ganz allein einen neuen Job anzutreten. Und dann hatte sie es nicht mal geschafft, sich umzubringen, so dass er jeden Tag nach Hause kommen musste, ohne zu wissen, ob er sie lebendig oder tot vorfinden würde. Dann war Margaret Priddy ermordet worden, und Marvel hatte ihn wie den letzten Dreck behandelt, und irgendjemand hatte angefangen, Botschaften für ihn zu hinterlassen, dass er seinen Job machen solle …
Jedes dieser Vorkommnisse könnte an dem geladenen Gewehr einer beschädigten Psyche den Abzug betätigt haben.
Hatte Jonas das Erbrochene beseitigt? Oder hatte eine Teilpersönlichkeit es ohne sein Wissen getan?
Hatte eine Teilpersönlichkeit den Knopf verloren, und Jonas hatte ihn nur gefunden?
Sie glaubte, dass Jonas die Wahrheit sagte. Andererseits war seine Wahrheit vielleicht nicht die Wahrheit.
Trotzdem hatte sie keine Angst vor Jonas. Sie würde ihm jederzeit ihr Leben anvertrauen.
Den Fremden in ihm jedoch fürchtete sie.
Jäh stand sie auf und wäre beinahe hingefallen. Der Wackelpudding in ihren Beinen kam nicht allein von der Krankheit.
Sie versuchte, sich nicht sicher zu sein. In ihrem Kopf, mit ihrem Intellekt, bemühte sie sich, zu rationalisieren, Hypothesen aufzustellen,
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