Der Beschütze
irgendeine merkwürdige Fügung des Schicksals recht behielt. Selbst wenn das tatsächlich bedeutete, jemanden zu fassen, der ein grauenhaftes Verbrechen begangen hatte.
Nein, das stimmte nicht, dachte Jonas beschämt. Den Mörder von Margaret Priddy zu schnappen wäre jede Demütigung wert. Doch es wäre ihm lieber, wenn sie den Kerl auf andere Weise erwischen würden – auf eine Weise, die Marvel keine Gelegenheit für ein »Ich hab’s ja gesagt« geben würde.
Es war ein langer, kalter Tag.
Jonas kam nach Hause und fand Lucy mit dem Telefon in der Hand schlafend auf dem Sofa vor, während Rosemaries Baby ohne Ton im Fernseher lief.
»Wie geht’s dir, Lu?«, fragte er leise, als sie sich regte.
Ein paar Sekunden lang blinzelte sie verwirrt, und Jonas sah, wie das Erkennen in ihre Augen zurückkehrte.
»Meine Beine tun weh«, erwiderte sie mürrisch. »Und der Sohn von Margaret Priddy hat angerufen und wollte dich sprechen. Hat nicht gesagt, warum.«
Sie rutschte ein Stück hoch, und er setzte sich, zog ihre nackten Beine auf seinen Schoß und deckte sie von Neuem mit der braun karierten Decke zu.
Jonas begann, ihre Waden zu massieren.
»Rufst du ihn zurück?«, wollte sie wissen.
»Gleich.« Er zuckte die Achseln.
Auf dem Bildschirm übertrieb es Mia Farrow beim Anblick des Teufelskindes, das sie zur Welt gebracht hatte.
»Lass uns ein Baby kriegen«, sagte Lucy.
Er hörte nicht auf, ihre Unterschenkel zu massieren, doch er antwortete ihr auch nicht. Und wandte auch den Blick nicht vom Fernseher ab.
»Jonas?«
»Können wir später darüber reden?« Noch immer liebkoste er sie, doch jetzt konnte sie fühlen, dass es rein mechanisch geschah.
»Ich will aber jetzt darüber reden.«
Jonas seufzte und sah sie an. »Das haben wir doch schon besprochen, Lu. Du bist krank …«
»Darum geht’s doch gar nicht.« Sie zog die Beine an, weg von ihm, und klemmte sie unter ihren Körper. Jetzt war es an ihr, unverwandt auf den Bildschirm zu starren.
Er schwieg. Das letzte Mal hatten sie dieses Gespräch vor fast zwei Jahren geführt. Er hatte gehofft, sie würden es nicht noch einmal tun müssen.
Doch Lucy ließ nicht locker. »Du wolltest doch Kinder, bevor wir geheiratet haben.«
»Wollte ich nicht.«
Er sagte das ganz automatisch und sah, wie ihre Augen groß wurden.
»Du hast gesagt, du wolltest welche.«
Jetzt gab es keinen Ausweg mehr. Sein Mundwerk hatte
ihn verraten, und er konnte das Gesagte nicht zurücknehmen. »Du hast gesagt, ich wollte welche.«
»Du hast nie gesagt, dass du keine willst.«
»Na ja …« Jonas zuckte die Schultern und hob hilflos eine Hand. »Ich will aber keine.«
Lucy biss sich auf die Lippe, entschlossen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen wie eine Erwachsene. Dies hier war ein Gespräch zwischen zwei Erwachsenen. Sie durfte nicht zeigen, dass sie ihn ohrfeigen und auf dem Boden Rotz und Wasser heulen wollte wie ein kleines Kind.
»Warum nicht?«, fragte sie, und das Zittern in ihrer Stimme widerte sie an.
»Ich will eben keine.«
»Ich finde, ich habe eine bessere Antwort verdient als das, Jonas.«
Das fand Jonas auch. Er wusste, dass sie eine bessere Antwort verdient hatte. Doch er blieb stumm wie ein Feigling; er wusste, das war seine einzig mögliche Verteidigung.
Normalerweise ließ Lucy es irgendwann gut sein. Sie stritten nie und wussten gar nicht recht, wie das ging, aber heute Abend war Lucy endlich gekränkt genug …
»Willst du denn nichts haben, was dich an mich erinnert?«
Jäh stand Jonas auf, und sobald Lucy sein Gesicht sah, wünschte sie, sie könne ihre Worte zurücknehmen. Einen Moment lang hatte sie richtig Angst.
Er verließ das Zimmer, und sie hörte, wie er seine Autoschlüssel und sein Handy von dem Tisch im Flur nahm, neben den Blumen.
Fast hätte sie nach ihm gerufen, doch sie hielt sich zurück.
Sie hatte das Recht zu sagen, was sie empfand! Wäre er krank und sie gesund gewesen, so hätte Lucy Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um ein Kind von Jonas zu bekommen. Sie konnte es kaum glauben, dass er – ausnahmsweise – nicht dasselbe wollte wie sie. Anderer Meinung zu sein war eine Sache, aber sich zu weigern, über ein so lebenswichtiges
Thema auch nur zu reden, das war etwas ganz anderes. Sie spürte, wie ihr das Selbstmitleid die Kehle zusammenzog. Noch war sie doch nicht tot! Ihre Stimme zählte doch noch!
Oder etwa nicht?
Sie hörte, wie die Haustür leise hinter ihm ins Schloss
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