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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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ausgezogen hatte, obwohl Joy Springers Sofa aussah, als stamme es von einer Müllkippe. Seine Schuhe übrigens auch, sie waren in den letzten zwei Wochen so oft nass geworden und wieder getrocknet, dass das Leder ganz steif wurde. Wie schwierig konnte es denn sein, ein Paar dämliche Gummistiefel zu kaufen?
    Er sah auf die Uhr. Viertel vor neun.
    Mist.

    Die leeren Flaschen auf dem Tisch erzählten eine eigene Geschichte, und als Vorspann dazu diente eine verschwommene Erinnerung, wie Joy Springer gackernd gelacht hatte, als er irgendeine Anekdote zum Besten gab. Davon hatte er mehrere parat, die er vor anderen wieder und wieder hervorholte. Jede begann mit: »Das erinnert mich an …« Als hätte er es jemals vergessen.
    Da war die Geschichte von Jason Harman, dem Metzger von Bermondsey, der seine Frau und seine Schwiegermutter zerlegt und ihre sterblichen Überreste auf einer zweiflammigen Kochplatte zu Suppe verkocht hatte. Von Nance Locke, die ihre drei Kinder ermordet hatte, indem sie ihnen die Hände gefesselt und einem nach dem anderen den Kopf in einen Wassereimer gedrückt hatte. Oder von Ang Nu, der getürmt war, als wäre er schuldig, und der, als man ihn in die Enge getrieben hatte, von einer Brücke gesprungen war  – nicht in den Fluss, mit dem er gerechnet hatte, sondern auf die unseligen eisernen Spitzen des Brückengebälks weiter unten. »Eine in den Arsch, eine ins Herz und eine direkt durch die Augenhöhle«, beendete Marvel seine Schilderungen stets mit makabrer Schadenfreude. »Der Augapfel hat oben auf dem Ding gesteckt wie ’ne Cocktailzwiebel auf ’nem Zahnstocher.«
    Natürlich hatten immer weniger Leute jemals eine Cocktailzwiebel auf einem Zahnstocher zu Gesicht bekommen, je älter Marvel wurde, und das Bild verlor immer mehr an Wirkung. Trotzdem machte es ihm Spaß, es so zu schildern, auch wenn der Ausgang der Geschichte stets von leichten Gewissensbissen begleitet wurde, wegen der unterschlagenen nachträglichen Erkenntnisse. Dass Ang Nu als Ausländer bereits zweimal zusammengeschlagen worden war, dass er kein Englisch gesprochen und wahrscheinlich keine Ahnung gehabt hatte, dass die vier stämmigen Kerle, die diesmal Jagd auf ihn machten, Polizisten waren.
    Das hätte doch die ganze Geschichte verdorben.

    Was eine Schande gewesen wäre, denn Joy Springer hatte allem Anschein nach ihre Freude daran gehabt. Sie war ganz bestimmt alt genug, um sich noch an Cocktailzwiebeln zu erinnern. Hätte er eine Anekdote von einem Fondue-Verbrechen parat gehabt, so hätte ihr die zweifellos auch gefallen.
    Joy hatte ihrerseits ein paar Geschichten auf Lager, erinnerte sich Marvel jetzt undeutlich und verzog das Gesicht. Ein paar zu viel, und alle hatten sie mit der Springer Farm zu tun: wie sie den Hof als frisch verheiratetes Paar gekauft hatten, ihre Pferde und all ihre kleinen Pferdemacken, die scheinbar endlosen Jahre der Wanderritte und der ländlichen Turniere, vom Pferd plumpsende Kinder und niedergetrampelte Touristen, wie der Stall abgebrannt war und sie an seiner Stelle die Cottages gebaut hatte … Glücklicherweise hatte Marvel die meiste Zeit komplett abschalten können. Bis ihr die Tränen gekommen waren. Da hatte er sich wieder zusammenreißen und sich zumindest den Anschein geben müssen, als hätte er die ganze Zeit zugehört. Wirklich, was man hier draußen für ein Glas in Gesellschaft so alles auf sich nahm.
    Sie hatte ihm ein Foto von ihrem Mann gezeigt. Jetzt drehte Marvel den Kopf und sah es noch immer auf dem Tisch stehen, aufrecht angelehnt, als hätte es ihn die ganze Nacht beobachtet. Gruselig. Ihr Mann hatte Roy geheißen. Oder Ralph. Irgendwas mit R.
    Debbie hatte immer gesagt: »Die Menschen bekommen das Gesicht, das sie verdienen.« Auch so eine von ihren Hippie-Weisheiten, bei denen er ihr immer am liebsten eins mit ihrem amazonischen Regenstab verpasst hätte. Ärgerlicherweise jedoch war Marvel widerstrebend zu dem Schluss gekommen, dass sie damit im Allgemeinen recht hatte. Er hatte genug schielende Kriminelle mit verkniffenen Mündern und fliehenden Stirnen eingebuchtet, um empfänglich für diese Idee zu werden. Wenn irgendwer mit R das Gesicht bekommen hatte, das er verdiente, dachte er jetzt, dann hätte man ihn wahrscheinlich auch einbuchten sollen.

    Nicht laut Joy Springer, erinnerte er sich vage. Offenbar stammte irgendwas mit R von den Engeln ab und war dorthin zurückgekehrt, um »bei ihnen zu schlafen«, nachdem sein qualvolles Leben ein Ende

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