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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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weg, die er auf dem Schoß gehalten hatte, und wandte sich von Jonas ab, um den Hund zu streicheln. Das große, flach hingestreckte Tier hob das Vorderbein vom Sofa, damit Ronnie seine Achselhöhle kraulen konnte.
    »Das gefällt ihm«, bemerkte Jonas.
    »Ja«, sagte Ronnie. Und dann, nach einer langen Pause: »Das ha’m Sie mir doch gesagt.«
    »Was?«
    Ronnie wandte Jonas beim Sprechen den Rücken zu, doch seine Stimme war durch den Kontakt mit dem Windhund sanfter geworden, der steifbeinig dalag, vor Wohlbehagen wie hypnotisiert.
    »Sie ha’m mir gesagt, Hunde lassen sich gern da kraulen.«
    »Ja?« Jonas war verwirrt. »Wann?«
    Ronnie hob eine Schulter. »Weiß nicht. Als ich klein war.«
    Jonas hatte keinerlei Erinnerung daran. Er konnte sich nur noch ganz verschwommen an Ronnie Trewell als Kind erinnern, das sich  – auffällig wegen seines Hinkens  – immer
am Rand des Geschehens hielt, niemals ausgeschlossen, aber auch niemals wirklich dabei.
    Er sah zu, wie die schwieligen, vom Motoröl verfärbten Finger des jungen Mannes sanft die zarteste Haut liebkosten, die der Hund zu bieten hatte.
    »Wie alt ist er?«, erkundigte sich Jonas.
    »Zwölf«, antwortete Dougie, erleichtert über diese neue, wenig konfliktlastige Wendung des Gesprächs. »Früher ist er Rennen gelaufen. Hatte Tätowierungen in den Ohren, aber die ha’m sie rausgeschnitten, als sie ihn ausgemustert ha’m.«
    Jonas sah, wie die trüben Augen des Hundes sich weiteten und sich sein ganzer Körper versteifte, als Ronnie ein Ohr anhob, um zu zeigen, wo die zarten Falten aus seidiger Haut brutal abgetrennt worden waren, um Identifikation und Verantwortung zu vermeiden.
    »Er mag’s nich’, wenn man ihn da anfasst«, sagte Ronnie und ließ das Ohr wieder fallen. »Auch nach all der langen Zeit.«
    »Er erinnert sich, versteh’n Sie?« Dougie ging hinüber, hockte sich auf die Sofakante und strich über die gestromte Flanke des Hundes. »Nich’ wahr, Süßer?«
    Plötzlich empfand Jonas eine überwältigende Traurigkeit und das Gefühl, abseits von allem zu stehen.
    Der weichherzige Dieb, der unausgereifte Junge, das muffige Zimmer. Der alte Hund mit seinem guten Gedächtnis für schlimme Dinge.
    Er sagte irgendetwas zu Dougie, über die Hilfe, die er gestern geleistet hatte. Er wusste nicht, was er sagte oder was darauf erwidert wurde; es diente lediglich dazu, sich zu verabschieden und aus dem Haus in die Außenwelt zu treten, wo er atmen und allein sein konnte.
    Am Gartentor wandte er sich nach links anstatt nach rechts und ging zwanzig Schritte über den gefrorenen Matsch zu dem Zauntritt, der aufs Hochmoor hinausführte. Er stieg hinauf und stand dort oben, in den eisigen Nachthimmel erhoben,
verwirrt von der Tiefgründigkeit seiner eigenen Gefühle.
    Was spielte es für eine Rolle, wenn der Hund alt war? Wenn ihm seine Tätowierungen herausgeschnitten worden waren? Hunde machten andauernd Schreckliches durch, und dann erholten sie sich davon und lebten glücklich und zufrieden. Genau wie Menschen. Jetzt wurde der Hund doch geliebt und umsorgt, warum also war er so traurig?
    Weil der Hund sich erinnerte.
    Schlimmer noch, der Hund konnte nicht vergessen.
    Selbst wenn er ein ganzes Vinylsofa hatte, auf dem er sich ausstrecken konnte, und ein Junge ihn unter der Achsel kraulte, war die Erinnerung da, gleich unter all dem, bereit, durch die Haut zu brechen, alte Wunden aufzureißen und sie von Neuem bluten zu lassen. Und es waren nicht nur die Wunden. Es war die Erinnerung an das zitternde, haltlos pissende Entsetzen, wenn sich ein Mensch näherte und eine Hand sich nach ihm ausstreckte, für den Fall, dass keine Leckerbissen darin waren, sondern scharfer und eigennütziger Schmerz.
    Von der Angst des Hundes, der sich erinnerte, wurde Jonas schwindlig. Er hatte keine Ahnung, wieso, es war einfach so.
    Er schwankte auf dem vereisten Zauntritt, sog Luft in die Lunge, als wäre er gerade fast ertrunken, und kniff die Augen zu.
    Er würde nicht weinen. Er durfte nicht weinen. Weinen war nicht erlaubt.
    Aus irgendeinem Grund, den er nicht zu erfassen vermochte, brannten seine Augen bei diesem Gedanken noch mehr, und seine Kehle fühlte sich an, als sei sie vor Anstrengung, die Tränen zurückzuhalten, von einem Ballon ausgefüllt.
    Es war Lucy. Ihm war klar, dass das alles wegen Lucy war, diese neue Phase der Weinerlichkeit. Jonas versuchte, sich
einzureden, dass das doch ganz verständlich sei … dass er sich bei der Aussicht, jemanden

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