Der Besen im System
bereits verlassen hatte. Während die Sonne durch das knackend bewegte Geäst blinzelte, schaute ich gedankenverloren auf dieses erste Erröten des immer noch grünen Blätterdachs, bis Harndrang und Erinnerung mich weitertrieben.
Die Initialen waren noch da, ein kleines »R. V.«, ziemlich weit unten in die Kabinenwand geritzt. Irgendjemand hatte die Buchstaben mit einem Kuli nachgezogen und dann die Initialen »W. X. R.« hinzugefügt, was ich nur als schlechten Scherz verstehen kann. Nicht weit davon hatte eine verlorene Seele ein einzelnes Wort hinterlassen, sehr wahrscheinlich und für mich mehr als nachvollziehbar während der Prüfungszeit. Das Wort lautete »Mama«. Und wie nicht anders zu erwarten, war auch dieses Zeugnis echten Gefühls nachträglich und farblich leicht verändert durch die Hand eines niederträchtigen Menschen in etwas Hässliches verwandelt worden, nämlich: »Mama hasst dich.«
Als unheilbarer Krakler schrieb ich darunter: »Nein, tut sie nicht«, wobei ich jedoch auf dem versifften Fußboden herumkrauchen musste und es fertig brachte, meine Krawatte sauber in die Kloschüssel zu tunken. So viel zur Reinlichkeitstheorie von Jay und Blentner. Jedenfalls schwappte meine Gegenwart in die Vergangenheit über und nahm mich mit auf die Reise.
Draußen vor dem Arts Building gehe ich über den Hof und komme zu einer Wiese mit dem ersten Herbstlaub des Jahres, wo barfüßige, luftig gekleidete Jungen Frisbee spielen. Sie haben Handgelenke ohne Knochen, springen wie Rehe hin und her und werfen die Scheibe in jede erdenkliche Richtung. Wir Dinosaurier haben früher ein ganz ähnliches Spiel gespielt, mit den Tabletts aus dem Speisesaal, damals noch aus Blech und mit derart scharfen Kanten, dass man sich den Daumen damit absäbelte, wenn es nicht gelang, das sirrende Ding mit spitzen Fingern aus der Luft zu fischen ... Aber egal, wir spielten und bluteten. Jetzt spielt man mit schönen Hightech-Geräten, die reglos in der Luft hängen, während Bäume, Erde und die geschmeidigen Fänger wie auf Öl darunter hinweggleiten. Ich applaudiere, räuspere mich, werfe unter anderem meinen Hut in die Luft, um darauf aufmerksam zu machen, dass ich gerne mitspielen würde, doch man ignoriert mich.
Ich gehe um die Wiese herum, trete gegen die frei liegenden Wurzeln und bekomme Gespräche mit, die in mir unbekannten Sprachen geführt werden. Vom Wohnheim Nord allerdings halte ich mich fern, mache sogar einen Riesenbogen darum. Aus den Augenwinkeln sehe ich die Jalousien in den Fenstern flattern. Und das Schild mit den drei Fingern. Wohnheim Nord. Schauplatz der bislang vermutlich tragischsten Katastrophe meines Lebens.
Abgesehen vielleicht von meiner Hochzeitsnacht.
Und wen sehe ich hier auf der Wiese? Kann die Gegenwart einer Vergangenheit anders als hässlich sein? Nicht ganz, denn wie mir aufgefallen sein sollte, ist Hässlichkeit etwas, das auf dem Campus nicht vorkommt. Gleichwohl sehe ich sie noch, die Hässlichkeit, gefesselt, geknebelt und weggesperrt in die dunkelsten Wandschränke und Heizungskeller, die tiefsten Abstellkammern der ältesten Gemäuer. Ich glaube sogar, ich höre sie leise um Hilfe rufen. Den irren Verwandten, den jeder ignoriert und verleugnet und durchfüttert. Die Hässlichkeit hat auf der Wiese keinen Platz.
Und wen sehe ich hier? Ich sehe Studenten und Erwachsene. Ich sehe Eltern. Die mit den Namensschildchen sind ganz offensichtlich Eltern. Ich sehe die Studenten, und sie sehen zurück. In ihren Augen Selbstbewusstsein und eine differenzierte Abwehr, die sie weit nach vorn verlegen. Ihre Mienen bleiben leer. In den Gesichtern der Mädchen Weichheit und Anmut und der glänzende, entspannte Blick des Reichtums sowie jenes unverzichtbare Talent, Probleme zu schaffen, wo keine sind. Aus irgendeinem Grund sehe ich diese Mädchen auch gleich in ihrer gealterten Version, wie Geisterbilder im Fernsehen: Frauen in mittleren Jahren mit grellroten Fingernägeln und lederartig gebräunten, von Falten gleichsam zusammengezurrten Gesichtern unter Frisuren, zurechtgezupft und totgesprayt von Männern mit französischen Vornamen; und Augen, Augen, die ohne jeden Anflug von Erbarmen oder Zweifel über den Salzrand eines Margarita-Glases in die grelle Sonne über dem Country-Club-Pool starren. Die Abwehr wird ausgebaut, wächst, winkt mir aus der Ferne wie das epileptische Gezappel eines rückwärts laufenden Films. Die Jungs unterscheiden sich in angemessener Weise von den Mädchen. Ich
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