Der Besen im System
Beziehungsgeflechte. Sie sind weder identisch noch koextensiv, sondern existieren getrennt.
RICK: Was ist mit meinem Traum? Mittlerweile habe ich Angst, aufs Klo zu gehen, aber auch Angst, ins Bett zu gehen. Allzu viel bleibt mir nicht mehr.
JAY: Ich persönlich glaube, der Traum ist viel zu kompliziert, um ihn in der kurzen Zeit heute auseinander zu nehmen. Aber wahrscheinlich haben Sie mit diesem Traum den Fuß in der Tür zu einem echten Durchbruch. Ich könnte Ihnen allerdings schon die eine oder andere Kleinigkeit dazu sagen. Soll ich?
RICK: ( unverständlich ).
JAY: Der Traum strotzt nur so von Beziehungsgeflecht. Stichwort Innen-Außenwelt-Verhältnis. Innenwelt ist das Büro. Außenwelt ist der Schatten und das kleine Mädchen, beide drohen in die Innenwelt einzudringen und Sie einzusaugen. Lenore befindet sich in der Seite, im Innern der Zeichnung, die Lang mit seiner Flasche anfertigt, doch sie transzendiert ihren Kontext, ist im wahrsten Wortsinn »erhaben« darüber und tritt in seine, Langs, Außenwelt ein. Sie hingegen sind gefangen hinter Ihrem Fächer aus Urin, doch der Teebeutel, der Ihnen dazu dient, Ihre Verschiedenartigkeit von jenem Anderen zu kaschieren, dieser Teebeutel »gibt seine Farbe ab« und verschmutzt die bereits außer Kontrolle geratene Erweiterung Ihres Selbst, das Sie gefangen hält. Ein Teebeutel in einer heißen Flüssigkeit erscheint einem Psychologen als perfektes archetypisches Bild für eine beängstigend schwach ausgebildete Hygiene-Identitäts-Beziehung, und zwar durch die Gegenüberstellung mit anderen, von den Ihren jedoch getrennten Beziehungssystemen. Und so weiter, und so weiter. Ihr luftdichter Schrei: Luft gelangt nicht bis in Ihre Lungen. Lenore »ertrinkt«: Die Luft in der Lunge wird verdrängt durch das gleich zweifach verschmutzte Element der Selbst-Erweiterung. Lang drückt Lenore mit seinem Anus in dieses verschmutzte Element, der Anus steht archetypisch für das Unreine schlechthin. Bleiben noch die bei Ihnen unvermeidlichen Mäuse in dem stinkenden Strom, aber über die haben wir ja bereits ausführlich gesprochen ...
RICK: Okay, das reicht. Ich hätte wissen müssen, dass ...
JAY: Nein, warten Sie, die faszinierende Gestalt im Kontext des Traums ist für mich Lenore. Ihr Unterbewusstes imaginiert Lenore als »reliefartig erhaben, dreidimensional«. Wohingegen Lang sie anfangs qua Zeichnung als zweidimensional auffasst, nicht real und begrenzt von den Rändern der Seite, auf deren Rückseite übrigens eine Geschichte steht, das heißt ein Beziehungsgeflecht aus Ihrer Herstellung, sodass ...
RICK: Übrigens eine Geschichte, für die Lenore nur Hohn und Spott übrig hatte.
JAY: Ich sehe mich nicht in der Lage, literarische Urteile, abzugeben, das ist nicht mein Gebiet. Mein Gebiet ist die Tatsache, dass Lang sich eine Lenore konstruiert, und zwar auf genau dieselbe Weise, wie jeder von uns den Menschen in seinem Beziehungsgeflecht seine ganz persönlichen Wahrnehmungs- und Denkmuster auferlegt. Jawohl, Lang konstruiert sich eine Lenore, und zunächst ist sie tatsächlich in seiner zweidimensionalen und nicht realen Zeichenwelt gefangen. Aber dann ... dann ritzt er seine Initialen in sie, penetriert sie mit seinem Selbst, ein Selbst, für das die Initialen nur ein elegantes Symbol sind. Lang ist also in der Lage, durch die von ihm geschaffene Lenore-Membrane in sie einzudringen. Er steckt sich selbst in sie hinein. Und was passiert dann, Rick?
RICK: Ach Gott.
JAY: Was passiert?
Schweigen seitens Rick.
JAY: Sie wird real , Rick. Sie ist frei. Sie durchstößt die Membran des Zweidimensionalen, das die Seite repräsentiert, und wird real. Haare, Hände, Brüste, Füße schwellen, wachsen, befreien sich aus der Umstrickung des fremden Beziehungsgeflechts. Sie steht auf und geht durchs Zimmer, sie schwimmt sich frei, wenn Sie so wollen.
RICK: Das war mir nicht klar.
JAY: Macht doch nichts. Auf jeden Fall befreit sie sich, Rick. Sie ist frei, real. Das heißt, sie ist nicht länger nur Teil eines Beziehungsgeflechts, sie ist ein Beziehungsgeflecht. Realität und Identität erheben ihr siamesisches Haupt an der Schnittstelle zu einem Netzwerk. Und was macht die nunmehr dreidimensionale Lenore? Sie setzt ihren Namen auf das Andere, schreibt sich in das Andere ein , das durch eben diese Membranverletzung befreit wird. Sie installiert sich in einem Beziehungsgeflecht.
RICK: Ja, in dem von Lang.
JAY: Das Beziehungsgeflecht, das sie frei gemacht hat. Das
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